Broschüre: Sex-Work/Prostitution: eine feministische Einführung und Kritik

Kassel, Juli 2022

Wir freuen uns, dass Du dich für unsere Broschüre interessierst. Du kannst die im Juli 2022 erschienene Broschüre hier auf der Homepage als pdf oder als Fließtext (einfach weiter runter scrollen) lesen.

Die Broschüre liegt an verschiedenen Orten in Kassel und in weiteren Städten (z.B. Berlin, Köln, Leipzig, Frankfurt, Gießen, Hannover, Marburg) aus. Solltet ihr Interesse daran haben, Print-Exemplare der Broschüre für euch selbst oder zum Auslegen in eurer Stadt zu bestellen, kontaktiert uns gerne. Solange unser Vorrat ausreicht, schicken wir euch gerne welche zu.

Vorwort

  1. Solidarität mit Betroffenen
  2. Widersprüchliche Perspektiven auf den Verkauf von Sex
  3. Kauf von Sex in sexistischen Verhältnissen
  4. Erzwungener Verkauf von Sex: Ökonomische Not und Zwangsprostitution

Das Thema Sex-Work/Prostitution ist im Feminismus stark umstritten. Während sex-work positive Feminist:innen Sex-Work als Arbeit wie jede andere auch, als Care-Work oder als Selbstermächtigung verstehen, weisen prostitutionskritische Feminist:innen darauf hin, dass die Prostitution von sexualisierter Gewalt gegen Frauen geprägt ist und charakterisieren sie als sexistische Institution.[1] Für Feminist:innen und andere Personen, die sich für das Thema interessieren, sich damit jedoch noch nicht auseinandergesetzt haben, ist es schwer, einen Überblick über das Thema und die jeweiligen Argumente zu gewinnen. Diese Broschüre hat daher zum Ziel, Interessierten recht niedrigschwellig, übersichtlich und in möglichst einfacher Sprache einen Einstieg in dieses Thema zu bieten.

Ein solcher Überblick erscheint uns auch deswegen sinnvoll, weil Sex-Work/Prostitution kein Randphänomen ist. Einer aktuellen repräsentativen Umfrage zufolge haben in Deutschland knapp 30% der Männer mindestens einmal in ihrem Leben für Sex bezahlt.[2] Weil Sex-Work/Prostitution in Deutschland so stark verbreitet ist, weil sie von sexualisierter Gewalt durchzogen ist und weil sie umgekehrt sexistische Gewalt und Herrschaft außerhalb der Prostitution beeinflusst (… und damit auch Konsequenzen für das Leben von Frauen und anderer vulnerabler Personen[3] außerhalb der Prostitution hat), ist es sinnvoll, sich mit diesem Thema aus feministischer Perspektive auseinanderzusetzen.

Die Broschüre verfolgt nicht das Ziel, verschiedene Stimmen aus dem sex-work positiven und dem prostitutionskritischen Feminismus ohne Abwägung von Argumenten wiederzugeben. Als politischer Beitrag wirft sie vielmehr eine eigene Perspektive auf dieses Thema. Vor dem Hintergrund von Ausschlüssen und Anfeindungen, die in der Vergangenheit von sex-work positiven Feminist:innen gegen prostitutionskritische Feminist:innen in zahlreichen deutschen Städten ausgegangen sind, argumentiert der Beitrag dafür, dass eine fundamentale Kritik der Prostitution fester Bestandteil feministischer Debatten bleiben muss. Bei dieser Argumentation werden zwar sex-work positive Perspektiven wiedergegeben, jedoch werden diese einer feministischen Kritik unterzogen.

Entstanden ist die Broschüre als Reaktion auf konkrete Ereignisse in Kassel. Bei der Demonstration zum feministischen Kampftag 2022 haben die Organisator:innen alle sogenannten SWERFs von der Demonstration offiziell ausgeschlossen.[4] Personen, die Schilder mit der Aufschrift ‚Freier sind Täter‘ oder ‚Prostitution ist Gewalt‘ trugen, wurden dazu aufgefordert, diese Schilder herunterzunehmen, und wurden von der Demonstration gedrängt. In der Folge entstand in Kassel das Bündnis für Vielstimmigkeit im Feminismus, das dieses einseitige Abschneiden von feministischen Positionen kritisierte. Da wir als Bündnis die Erfahrung gemacht haben, dass viele Personen zum Thema Sex-Work/Prostitution (noch) keine eigene Position entwickelt haben, hoffen wir, mit dieser Broschüre auch zu verdeutlichen, warum es sich bei den zitierten Aussagen in unseren Augen um dezidiert feministische Positionen handelt und warum eine Demonstration zum feministischen Kampftag genau der richtige Ort ist, um solche Schilder hochzuhalten.

Der Text dieser Broschüre ist von einer Person aus dem Bündnis verfasst. Auch wenn nicht alle Personen im Bündnis alle Aussagen im Detail teilen, halten wir ihn dennoch für wertvoll. In dem Beitrag skizziert die Autorin als erstes, dass innerhalb der Gruppe von Sex-Arbeiter:innen/Frauen aus der Prostitution keine einheitliche Position besteht. Daraus zieht sie den Schluss, dass keine Haltung zu Sex-Arbeit/Prostitution Anspruch darauf erheben kann, die gesamte Personengruppe zu repräsentieren. Zweitens geht sie der Frage nach, wie Sex-Arbeiter:innen/Frauen aus der Prostitution den Verkauf von Sex als solchen einordnen. Darauf aufbauend plädiert sie aus einer feministischen Perspektive dafür, den Frauen aus der Prostitution, die dieses Kaufverhältnis als Gewalt erleben, in den feministischen Debatten Raum einzuräumen, und zum anderen formuliert sie vor diesem Hintergrund eine Kritik an der Aussage, Sex-Arbeit sei eine Arbeit wie jede andere auch. Drittens setzt sie sich aus einer theoretischen Perspektive damit auseinander, in welchem Verhältnis Prostitution zu Gewalt und Herrschaft außerhalb der Prostitution steht. Dabei skizziert sie das tradierte männliche Zugriffsrecht auf den weiblichen Körper und beschreibt, in welchem Verhältnis dieses Zugriffsrecht außerhalb der Prostitution zum Geschehen innerhalb der Prostitution steht. Auch vor diesem Hintergrund plädiert sie dafür, Sex-Arbeit nicht als Care-Arbeit zu bezeichnen. Viertens skizziert sie, dass das in Deutschland dominierende System der Prostitution von ökonomischer Perspektivlosigkeit und Gewalt durch Dritte durchzogen ist. Auch vor diesem Hintergrund argumentiert sie, dass die Forderung nach einer Kriminalisierung des Verhaltens von Freiern Bestandteil feministischer Debatten bleiben muss. Zum Abschluss stellt sie dar, dass die extremsten Ausformungen einer sex-work positiven Haltung feministische Überzeugungen in ihr Gegenteil verkehren und plädiert auch deswegen dafür, die Verwendung des Begriffs SWERF in feministischen Kontexten grundlegend zu überdenken.

Sexualisiertes Gewalterleben wird in allen Kapiteln dieser Broschüre mit Ausnahme des ersten thematisiert. An den wenigen Stellen, in denen schwere Gewalthandlungen explizit und relativ ausführlich wiedergegeben werden, wird dies zu Beginn der jeweiligen Absätze im Fließtext angekündigt. So ist es möglich, den entsprechenden Absatz beim Lesen zu überspringen.

Wir wünschen euch eine gewinnbringende Lektüre.

Das Bündnis für Vielstimmigkeit im Feminismus

Kassel, Juni 2022


1. Solidarität mit den Betroffenen

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Sex-work positive Feminist:innen bringen für sich in Anschlag, solidarisch mit Sexarbeiter:innen zu sein. Der Begriff SWERF, also ‚Sex Workers Exclusionary Radical Feminists‘, der auch zur Diskreditierung prostitutionskritischer Positionen verwendet wird, enthält bereits im Wortlaut den Vorwurf, prostitutionskritische Feminist:innen würden Sex-Arbeiter:innen ausschließen. Eine solche vereinfachende Vorstellung, nach der sex-work positive Feminist:innen solidarisch mit Betroffenen seien, wohingegen sich prostitutionskritische Feminist:innen unsolidarisch mit Betroffenen zeigen würden, ist allerdings ganz offenkundig unzutreffend. Denn innerhalb der Gruppe von Sex-Arbeiter:innen/Frauen aus der Prostitution gibt es keine einheitliche Position zu diesem Thema.

So existieren in Deutschland einige Organisationen, in denen sich Sex-Arbeiter:innen zusammengeschlossen haben, die Sex-Arbeit als normale Arbeit begreifen (z.B. Hydra, Kassandra e.V., Doña Carmen e.V., trans*sexwork, Sektion Sex-Arbeit in der Berliner FAU). Zugleich gibt es jedoch auch Organisationen, in denen Frauen aus der Prostitution eine prostitutionskritische Haltung artikulieren und unter anderem für ein Sexkauf-Verbot, also eine Kriminalisierung des Verhaltens von Freiern, eintreten (z.B. Sisters e.V., das Netzwerk Ella). Die international vielleicht bekannteste Vertreterin einer Fundamentalkritik an der Prostitution, Andrea Dworkin, war selbst jahrelang in der Prostitution. Auch in Deutschland gibt es mit Huschke Mau und Sandra Norak Frauen aus der Prostitution, die in die Öffentlichkeit treten und Prostitution grundlegend kritisieren.

Wie bei jedem anderen Thema auch, ist die Haltung zu Sex-Work/Prostitution innerhalb der Gruppe der Betroffenen also nicht homogen. Entsprechend kann sich eine feministische Haltung zu Prostitution – wie auch immer sie aussehen mag – nicht darauf berufen, solidarisch mit den Betroffenen im Allgemeinen zu sein. Jede Position zu Sex-Arbeit/Prostitution schließt die Perspektive bestimmter Betroffener aus bzw. ordnet ihre Perspektive einer anderen Gruppe von Betroffenen unter. Aufgrund dieser Heterogenität ist es falsch, bestimmte Positionen zu Sex-Arbeit/Prostitution innerhalb feministischer Auseinandersetzungen durch Anfeindungen mundtot machen zu wollen. Auch weil Sex-Arbeiter:innen/Frauen aus der Prostitution gesellschaftlich vulnerabel und mit Abwertungen und Gewalt konfrontiert sind, sollte die feministische Bewegung nicht durch Ausschlüsse, Anfeindungen oder Hetze ihre Vulnerabilität befeuern.

Der vorliegende Beitrag hat daher nicht zum Ziel, sex-work positive Sex-Arbeiter:innen mit Verleumdungen zu belegen oder sex-work positive Positionen aggressiv auszuschließen. Gleichwohl ist es aus feministischer Perspektive angemessen, eine eigene Haltung zu diesem Thema zu entwickeln. Dabei führt die Heterogenität der Positionen unter den Betroffenen dazu, dass eine solche eigene Haltung die von bestimmten Sex-Arbeiter:innen/Frauen aus der Prostitution vertretenen Positionen der Perspektive anderer Gruppen unterordnet. Daher schließt die Entwicklung einer eigenen feministischen Position auch eine Abwägung darüber ein, aus welchen gesellschaftsanalytischen und feministischen Gründen man welche Stimmen auf welche Weise in der eigenen Analyse und politischen Haltung berücksichtigt.

2. Widersprüchliche Perspektiven auf den Verkauf von Sex

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Im nachfolgenden Kapitel setze ich mich damit auseinander, welche widersprüchlichen Perspektiven Sex-Arbeiter:innen/Frauen aus der Prostitution auf den Verkauf von Sex als solchen einnehmen. Das Kapitel behandelt daher Sex-Arbeit/Prostitution, die ‚nur‘ aufgrund von ökonomischen Zwängen ausgeübt wird – also Verhältnisse, in denen kein direkter Zwang (z.B. durch gewalttätige Zuhälter und Menschenhändler) besteht.

Auf der einen Seite artikulieren Sex-Arbeiter:innen, dass Sex-Arbeit eine Arbeit wie jede andere sei. Diese sei nicht an sich gewaltvoll, sondern die Gewalt resultiere z.B. aus der Stigmatisierung von Sex-Arbeiter:innen. Den Verkauf von Sex begreifen diese Personen teilweise als Aspekt ihrer sexuellen Selbstbestimmung.

Auf der anderen Seite beschreiben prostitutionskritische Frauen aus der Prostitution die Prostitution im Kern als Gewalt.[5] Es finden sich Stimmen, die den Umstand, dass kein sexueller (!) Konsens besteht, als gewaltvoll charakterisieren – denn die Zustimmung zum Geschlechtsverkehr erfolgt nur für den Tausch gegen Geld, also letztlich im Fall von ökonomisch prekär lebenden Personen in der Prostitution (ohne Zuhälter) zur Vermeidung negativer Folgen, nämlich z.B. zur Vermeidung einer Situation, in der die Miete, Rechnungen oder Lebensmittel nicht bezahlt werden können, nicht jedoch weil der Sex als solcher gewünscht wäre. Diese Stimmen weisen darauf hin, dass Feminist:innen aus guten Gründen für alle Bereiche außerhalb von Sex-Arbeit/Prostitution betonen, dass nur ein lustvolles Ja ein tatsächliches Ja sei. Im Feminismus, der sich mit Sexualität außerhalb der Prostitution auseinandersetzt, hat sich in den letzten Jahrzehnten die Vorstellung weg von der Perspektive ‚Nein heißt nein‘ hin zu ‚Nur ein lustvolles Ja ist tatsächlicher Konsens‘ entwickelt. Prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution weisen darauf hin, dass außerhalb von Sex-Arbeit/Prostitution folgende Situation in der Regel als hochgradig problematisch eingeschätzt würde: „Ich habe keine Lust, von diesem Mann gefickt zu werden[6], lasse es aber dennoch über mich ergehen, weil mir ansonsten droht, obdachlos zu werden.“ Wären dieser Mann der Vermieter und die Frau eine junge Studentin, die sich noch nie prostituiert hat, würden die meisten Feminist:innen diese Situation als (potentiell) gewaltvoll  einschätzen – eben weil das „Ja“ zum Geschlechtsverkehr nicht auf die sexuelle Lust der Frau zurückgeht, sondern nur der Vermeidung negativer Konsequenzen geschuldet ist.[7]

Diese Argumentation, die Prostitution grundlegend problematisiert, wird häufig zurückgewiesen. Am häufigsten fällt dabei wohl das Argument, dass nicht alle Sex-Arbeiter:innen das oben beschriebene Tauschverhältnis als problematisch empfinden. Diese Reaktion ist nachvollziehbar, denn es gibt unbestreitbar öffentliche Äußerungen von Sex-Arbeiter:innen, in denen dieses Verhältnis als unproblematisch oder gar als befreiend eingeordnet wird (z.B. in etwa in dieser Form: ‚Endlich wird für etwas bezahlt, das ich ansonsten kostenfrei zur Verfügung stelle.‘). Dieser Fakt ändert jedoch auf den zweiten Blick nichts an der Relevanz der Äußerungen prostitutionskritischer Frauen aus der Prostitution. Sie haben die Prostitution in dieser Form erlebt und haben sie auf die oben dargestellte Weise als gewaltvoll analysiert – vermutlich auch deswegen, um ihr Erleben an Außenstehende kommunizieren zu können und es für diese verständlich zu machen. Der Umstand, dass es Personen gibt, die Sex-Arbeit anders wahrnehmen, ändert nichts an der Gültigkeit ihrer Perspektive auf den Verkauf von Sex.

Bei diesen Überlegungen handelt es sich nicht um theoretische Spitzfindigkeiten, sondern um die Frage, wieviel Empathie wir als Feminist:innen Personen, die Gewalt erlebt haben, zukommen lassen wollen. Will man Personen Empathie entgegenbringen, denen Gewalt widerfahren ist, oder will man ganz im Gegenteil die als gewaltvoll und herabwürdigend erlebten Erfahrungen mit dem Verweis darauf, dass andere es anders wahrnehmen, relativieren? Um der Frage nach der Empathie nachzugehen, greife ich auf ein Erlebnis zurück. Ich habe jahrelang mit wohnungslosen Frauen zusammengearbeitet. Einige dieser Frauen haben sich prostituiert. Ein Gespräch ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Meine Gesprächspartnerin war eine sehr junge Frau, die sich aus ökonomischer Not prostituierte. Sie hatte keinen Zuhälter, es war keine Zwangsprostitution, sie war deutsche Staatsbürgerin. Weil das Amt Überweisungen blockierte und weil ihr Unterstützung von ihrem sozialen und familiären Umfeld fehlte, hatte sie akut kein Geld für Essen, sah keine Möglichkeit schnell an einen Job zu kommen (kein Schulabschluss, psychische Belastungen und daher Probleme, geregelten Tätigkeiten nachzugehen) und entschied sich vor diesem Hintergrund für die Prostitution – insofern würde man in einem vereinfachenden Verständnis, das zwischen freiwilliger Prostitution und Zwangsprostitution unterscheidet, davon sprechen, dass sie sich freiwillig prostituiert hat.[8] Sie erzählte mir, dass sie in der Vergangenheit vergewaltigt worden sei. Sie sagte, dass sich die Prostitution für sie genauso anfühle wie ihre damalige Vergewaltigung. Das sagte sie wörtlich: „genauso“. Sie wolle das nicht, aber sie müsse es für die Kohle tun. Sie hat nicht davon berichtet, dass der Freier besonders unangenehm gewesen sei, dass er sich nicht an Absprachen gehalten habe oder besonders übergriffig gewesen sei. Ich habe sie so verstanden, dass in der äußeren Welt alles so verlaufen ist, wie abgesprochen und wie sie es antizipiert hatte, und sie hat es ‚dennoch‘ als Vergewaltigung erlebt – mit allen inneren Verwüstungen, die damit einhergehen, ähnlich wie die oben erwähnten prostitutionskritischen Feministinnen aus der Prostitution es beschreiben.

Auch als Feministin kann und darf ich diese erlebte Realität weder dieser jungen Frau noch anderen Personen absprechen, auch wenn es sehr wohl Sex-Arbeiter:innen gibt, die Sex-Arbeit anders erleben. Ich kann das auch deswegen nicht, weil bekannt ist, dass Vergewaltigungen ganz unterschiedlich verlaufen können. Es gibt auch Vergewaltigungen, in denen eine Person bis zum Geschlechtsverkehr ‚mitgemacht‘ hat oder während des Geschlechtsverkehrs die Situation ertragen hat, ohne sich gegen die Vergewaltigung verbal oder physisch zu wehren – sehr vielfältige Gründe können dazu führen, dass Personen, zumeist Frauen, aber auch andere sexuell vulnerable Menschen, Vergewaltigungen auf diese Weise über sich ergehen lassen.[9] Auch vor diesem Hintergrund besteht überhaupt kein Grund, in Zweifel zu ziehen, dass viele Frauen die Prostitutionssituation als solche als sexuell missbräuchlich erleben. Als Psychologin weiß ich, dass solche Formen der sexualisierten Gewalt nicht weniger traumatisierend sein müssen als andere Formen. Aufgrund von Selbstvorwürfen und der Vorstellung, vermeintlich schuldhaft in das Geschehen verstrickt zu sein, kann es im Nachgang sogar besonders schwer sein, das Erlebte zu verarbeiten.

Ein Absprechen der gewaltvollen Realität findet im feministischen Diskurs bezogen auf Sex-Arbeit/Prostitution jedoch regelmäßig statt. Prostitutionskritische Feministinnen aus der Prostitution beschreiben Abwehrreflexe zur Relativierung ihrer Gewalterzählungen, mit denen sie regelmäßig konfrontiert sind, auch als victim blaming.[10] Ich habe vielfach auf Veranstaltungen bzw. in Kommentarspalten zum Thema Sex-Arbeit/Prostitution gehört bzw. gelesen, dass „andere es anders sehen“ – in direkter Reaktion auf die Berichte von Frauen aus der Prostitution über ihr Gewalterleben. Ich frage mich, warum Feminist:innen und andere Personen es als ihre Aufgabe ansehen, Gewalterzählungen von Frauen damit zu relativieren, dass andere es anders empfinden. Warum fällt es manchen Personen augenscheinlich so schwer, diese Realität anzuerkennen, ohne sie mit dem Hinweis auf andere Personen zu relativieren? Würden wir als Feminist:innen denn in anderen Fällen über eine Person, die davon berichtet, dass sie eine Situation als Vergewaltigung erlebt habe, denken: „Das war bestimmt nicht so schlimm, wie sie behauptet, denn andere empfinden das anders.“?

Statt einer Relativierung des Erlebten als Gewalt wäre aus feministischer Perspektive das Gegenteil angemessen. Denn der Feminismus basiert ganz zentral darauf, Gewalt und Herrschaft im Geschlechterverhältnis in den Blick zu nehmen, in die Analyse einzubinden und als Bewegung auf ein Ende dieser Gewalt hinzuarbeiten. Das beinhaltet auch, insbesondere denjenigen Stimmen zuzuhören, die von (sexualisierter) Gewalt berichten, und diese Berichte in die feministische Gesellschaftsanalyse einzubeziehen. In neuerer Zeit hat es die feministische Bewegung geschafft, die Anfeindungen und die immense Gewalt, denen queere Personen ausgesetzt sind, sichtbar zu machen.  Auch die Zweite Frauenbewegung war zentral davon geprägt, Gewalterzählungen systematisch aufzugreifen und zu politisieren – auch wenn der dezidiert queerfeministische Blick noch fehlte. In den 1960er Jahren galten Vergewaltigungen (in der Ehe) als Kavaliersdelikt, sexuelle Übergriffe als harmlos. Einerseits fanden sich damals etliche Frauen, die der Meinung waren, angegrapscht zu werden oder cat calling im öffentlichen Raum seien Komplimente. Andererseits formierte sich gegen die dominante Verachtung von Frauen als Frauen eine breite Bewegung, die genau diese Phänomene als gewaltvoll benannte. Auch heute noch gibt es Frauen, die sexuelle Übergriffe bagatellisieren. Noch im Zuge der #metoo Debatte veröffentlichten Frauen in Frankreich einen offenen Brief, der darlegte, dass die Skandalisierung von Übergriffen ihre sexuelle Freiheit, einschränke.[11]

Auch vor diesem Hintergrund der Heterogenität von Wahrnehmungen innerhalb einer Gruppe von Betroffenen sollten sich manche sex-work positive Feminist:innen in meinen Augen die grundlegende Frage stellen, aus welchen Gründen sie in dem einen Fall (z.B. #metoo) den Stimmen, die ein Phänomen als herabwürdigend und übergriffig erleben, mehr Raum einräumen als jenen Stimmen, die dieses Verhalten als harmlos einstufen, wohingegen sie bei Sex-Arbeit/Prostitution teils mit gleicher Vehemenz den genau entgegengesetzten Weg einschlagen. Sie schenken jenen Stimmen deutlich mehr Beachtung, die Sex-Arbeit als Job wie jeden anderen auch erleben, als jenen Stimmen, die Prostitution als solche als gewaltvoll charakterisieren.[12]

Auf der Demonstration in Kassel am 8. März 2022 wurde eine Frau, die das Schild ‚Prostitution ist Gewalt‘ bei sich trug, von Demonstrationsteilnehmer:innen von der Demonstration gedrängt. Eine solche Position sei antifeministisch und habe nichts auf der Demo zu suchen, soll ihr gesagt worden sein. Mit diesem Verhalten wurde die Wahrnehmung von Frauen aus der Prostitution, die den Verkauf von Sex als solchen als gewaltvoll beschreiben, ausradiert –  und damit wurde auch die von ihnen erfahrene Gewalt unsichtbar gemacht. Als Feminist:innen sollten wir uns aber nicht dafür einsetzen, in der Gesellschaft bestehende Gewalt gegen Frauen und gegen andere vulnerable Personen aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen, sondern sollten diese an die Öffentlichkeit bringen, um sie bekämpfen zu können. Wir sollten es wertschätzen, dass prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution den Mut aufbringen sich dagegenzustemmen, dass ihre Erfahrungen in der öffentlichen Wahrnehmung ausradiert werden. Sie werden auch dadurch unsichtbar gemacht, dass der Kauf von Sex in Deutschland legal ist, das Kaufverhältnis also dem deutschen Recht im Kern als gewaltfrei gilt – das entspricht zwar dem Erleben mancher (relativ) selbstbestimmter Sex-Arbeiter:innen, widerspricht aber der Wahrnehmung etlicher Frauen aus der Prostitution. Wir sollten es anerkennen, dass sich prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution durch den Gang in die Öffentlichkeit in einem solchen gesellschaftlichen Klima hochgradig verletzbar und angreifbar machen, und wir sollten ihre analytischen Leistungen wertschätzen. Allein deswegen, weil es etliche Frauen aus der Prostitution gibt, die den Verkauf von Sex als solchen als gewaltvoll, grenzüberschreitend, demütigend und herabwürdigend beschreiben, muss eine feministische Fundamentalkritik an der Prostitution fester Bestandteil feministischer Debatten bleiben.

Exkurs: Verkauf von Sex als normale Arbeit im Kapitalismus

Der Umstand, dass zahlreiche Frauen aus der Prostitution den Verkauf von Sex im Kern als gewaltvoll charakterisieren, unterscheidet Prostitution ganz zentral von allen anderen Jobs.

Auch wenn Lohnarbeit immer zwangsvermittelt ist – da man in letzter Konsequenz in allen Jobs nur deswegen arbeitet, weil man sich andernfalls ökonomisch nicht reproduzieren könnte, also zur Vermeidung massiver negativer Konsequenzen -, existiert dennoch außerhalb der Prostitution keine andere Arbeit, in der die Kerntätigkeit (z.B. kassieren, wissenschaftliche Artikel schreiben, einen Bus fahren, Pakete ausliefern, Kinder betreuen, Excel-Tabellen ausfüllen, schwere Dinge heben) von vielen Beschäftigten als ein Verhältnis beschrieben wird, in dem der ‚Kunde‘ den ‚Beschäftigten‘ Gewalt antut, die in ihrer Schwere als mit sexuellem Missbrauch oder gar mit einer Vergewaltigung vergleichbar empfunden wird. Kaum eine andere Kerntätigkeit bringt es mit sich, dass sich viele/die meisten ‚Beschäftigten‘ im Vorfeld der Tätigkeit durch Alkohol und Drogen betäuben müssen, um diese auszuhalten – wie es von prostitutionskritischen Aktivistinnen aus der Prostitution als Standard in Laufhäusern und Bordellen beschrieben wird.[13] Es gibt zwar sehr wohl Jobs, die ebenso wie Prostitution ein hohes Risiko für eine Traumatisierung mit sich bringen (z.B. Feuer löschen, als Rettungssanitäter:in arbeiten)[14]. Jedoch ist hier erstens ein Aushalten von sexualisierter oder körperlicher Gewalt, die durch einen ‚Kunden‘ an der ‚Beschäftigten‘ ausgeübt wird, nicht Kernmerkmal des Berufs und zweitens handelt es sich dabei um gesellschaftlich notwendige Arbeit. Der Verkauf von Sex ist nicht gesellschaftlich notwendig.[15]

Wer also diesen Unterschied in den Kerntätigkeiten nivelliert, indem gesagt wird ‚Sex-Arbeit ist eine normale Arbeit im Kapitalismus‘, radiert die Stimmen von Frauen aus der Prostitution, die von einem Gewalterleben im Verkauf von Sex als solchem berichten, aus und/oder verharmlost die von ihnen erlebte sexualisierte Gewalt. Insbesondere diejenigen, die diese Behauptung mit dem Hinweis auf den allgemein ausbeuterischen Charakter des Kapitalismus stark machen, blenden diese Stimmen aus.[16] Möglicherweise hatten diese Personen noch nicht die Möglichkeit, Frauen aus der Prostitution, die von ihrem Gewalterleben in Bezug auf den Verkauf von Sex erzählen, empathisch und menschlich zugewandt zuzuhören. Vielleicht fehlten bislang (persönliche) Kontakte, die Möglichkeit, eine entsprechende Veranstaltung zu besuchen, oder die starke Polarisierung in den Debatten um Sex-Work/Prostitution hat dazu geführt, dass feministisch zugewandte Regungen in Bezug auf das Gewalterleben konkreter Personen ausgeblieben sind – weil sie von dem Bestreben, die Perspektive von sex-work positiven Sex-Arbeiter:innen stark zu machen, überlagert worden sind. Woran auch immer es liegt: diese Stimmen berücksichtigen nicht, dass zwischen Sex ohne sexuellen Konsens, der daraus resultierenden grundsätzlichen Potentialität von sexualisiertem Gewalterleben (und der daraus folgenden Gefahr einer schweren Traumatisierung) auf der einen Seite und dem Ausfüllen einer Excel-Tabelle auf der anderen Seite ein fundamentaler Unterschied besteht.[17]

3. Kauf von Sex in sexistischen Verhältnissen

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Nachdem das vorangegangene Kapitel auf einer recht allgemeinen Ebene den Verkauf von Sex thematisiert hat, beschäftigt sich der nachfolgende Abschnitt mit der Frage, auf welche Weise der Kauf von Sex in sexistische Verhältnisse eingebunden ist. Dabei werden nun auch die Kund:innen von Sex-Arbeiter:innen/die Freier in den Fokus rücken.

Das männliche Verfügungsrecht außerhalb der Prostitution

Die meisten Feminist:innen sind sich dahingehend einig, dass das aktuelle Verhältnis zwischen den binären Geschlechtern außerhalb von Sex-Arbeit/Prostitution durch ein männliches sexuelles Zugriffsrecht auf den Körper von Frauen charakterisiert ist.[18]

Auch wenn nicht alle Feminist:innen den Begriff des ‚Verfügungsrechts‘ verwenden, sind sich die meisten dahingehend einig, dass das Leben von Frauen und von Personen, die als cis-weiblich wahrgenommen werden, in Deutschland durch sexuelle Belästigung, sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen geprägt ist, die von Männern ausgehen. Als Frauen werden wir mit ekelhaft-sexuellen Blicken belästigt, mit unerwünschten sexuellen Äußerungen konfrontiert, Männer fassen uns im Supermarkt, auf der Straße oder im Club überraschend an den Po, an den Busen oder zwischen die Beine und viele von uns sind vergewaltigt worden – denn in Deutschland sind 15% der Frauen mindestens einmal in ihrem Leben vergewaltigt worden bzw. wurde dies versucht.[19] Auch wenn diese Handlungen von Männern unterschiedlich schwer wiegen – eine Vergewaltigung ist etwas anderes als ein Grapschen an den Po und das ist wiederum etwas anderes als anzüglich angeschaut zu werden -, haben sie dennoch gemeinsam, dass unsere körperlichen und sexuellen Grenzen missachtet werden. Es findet eine Sexualisierung statt, die einseitig von den handelnden Männern initialisiert wird und die trotz fehlender Hinweise, dass wir zu ihnen in ein sexuelles Verhältnis treten wollen, aufrechterhalten wird. All diese Handlungen sind Ausdruck davon, dass die handelnden Männer der brutalen Idee anhängen, über ein sexuelles Zugriffsrecht auf den Körper von Frauen zu verfügen.

Oftmals dienen die Sexualisierung und die Ausübung sexualisierter Gewalt ganz offenkundig der Demütigung. Die Männer, die uns „Ich fick Dich!“ hinterherrufen, signalisieren damit auch: „Schau her, du Fotze. Ich kann das mit dir machen. Ich kann dir alles hinterherrufen. Ich kann machen, was ich will, und du kannst nichts dagegen tun. Du bist nichts und ich bin alles.“ Frauen und Personen, die als cis-weiblich wahrgenommen werden, wird auf diese Weise eine untergeordnete Position zugewiesen. Sexualisierte Gewalt ist somit Ausdruck von Herrschaft im Geschlechterverhältnis und sie ist ein Kampfmittel, um diese Herrschaft aufrechtzuerhalten. Einige Feminist:innen formulieren sogar die Ansicht, sexualisierte Gewalt habe nichts mit Sexualität zu tun, sondern sei ausschließlich ein Instrument zur Ausübung von Macht. Ich bin anderer Ansicht: Sexualisierte Gewalt ist unbestreitbar eine Form der Machtausübung, aber sie ist auch Sexualität – sie ist dies allein deswegen schon, weil etliche Männer, die sexuell übergriffig handeln, diese Handlungen tatsächlich als sexuell erregend empfinden. Bei dieser Sexualität handelt es sich jedoch nicht um Sexualität im emphatischen Sinne, also nicht um Sexualität in einem positiven Verständnis, beruhend auf gegenseitigem Respekt und beidseitiger Lust, sondern um gewaltförmige, grenzüberschreitende Sexualität, die das sexuelle Erleben des Mannes und sein Dominanzstreben absolut setzt und die (sexuellen) Wünsche von Frauen missachtet. In einem gesellschaftlichen System, in dem die Vorstellung eines männlichen Zugriffsrechts auf den weiblichen Körper dominant ist, in dem sexualisierte Gewalt als reguläres Kampfmittel zur Aufrechterhaltung der untergeordneten Rolle von Frauen und von als cis-weiblich wahrgenommenen Personen Anwendung findet, ist männliche lustvolle Sexualität oftmals an die Herabwürdigung und Demütigung von Frauen gebunden.[20]

Das männliche Verfügungsrecht in der Prostitution

Ich vertrete einerseits die These, dass Prostitution einerseits einen regulierenden Effekt auf das männliche Zugriffsrecht auf den weiblichen Körper, wie es außerhalb der Prostitution existiert, haben kann. Andererseits argumentiere ich, dass dem Prostitutionsgeschehen die Gefahr massiver sexualisierter Gewalt inhärent ist und zwar genau wegen dieses männlichen Zugriffsrechts außerhalb der Prostitution. In der Prostitution verstärkt sich also die sexualisierte Gewalt, wie sie außerhalb der Prostitution existiert. Diese These entfalte ich nachfolgend.

Prostitutionskritische Frauen aus der Prostitution, aber auch sex-work positive Sex-Arbeiter:innen beschreiben, dass die Prostitution das männliche Zugriffsrecht regulieren könne. So berichtet etwa Huschke Mau, dass sie es in den Anfängen der Prostitution als positiv wahrgenommen habe, endlich für das, was Männer andernfalls umsonst und gewaltvoll durchgesetzt haben, Geld zu verlangen. Zudem barg für sie die Prostitution die Möglichkeit, zudringliche Männer abzuwehren, weil diese ihren Hinweis, dass es für sie ‚was kosten‘ würde, als Grenzsetzung akzeptiert hätten (Mau, 2022) [21]. Auch eine Sex-Arbeiterin, die eher sex-work positive Positionen einnimmt, beschreibt auf ihrem Instagram Account „6arbeiterin“ sexuelle Übergriffe durch Männer außerhalb der Sex-Arbeit: „Let’s be honest: Men are trash. Aber der größte Unterschied zwischen meinen bezahlten und unbezahlten 6uellen Erfahrungen ist, dass es im privaten Bereich quasi immer zu Grenzüberschreitungen kam. Im bezahlten Bereich spreche ich stattdessen so explizit über Konsens, dass Grenzüberschreitungen bei meiner Arbeit noch nie (!) vorkamen.“ Augenscheinlich nehmen einige Personen, die sich für den Weg in die Sex-Arbeit/Prostitution entscheiden, dies also als eine Option wahr, das männliche Zugriffsrecht in ihrem Sinne zu regulieren, indem dem männlichen Zugriffsrecht durch das Verlangen einer monetären Gegenleistung und durch explizite Absprachen (relative) Grenzen gesetzt werden.

Diese Regulierung gelingt augenscheinlich in einigen Fällen entsprechend der Wünsche von Sex-Arbeiter:innen (siehe oberes Zitat von dem Instagram Account „6arbeiterin“). Oftmals bewahrheitet sich diese Vorstellung einer Regulationsmöglichkeit jedoch nicht, da sehr viele Freier während des Prostitutionsgeschehens massiv gewalttätig und grenzverletzend werden. Auf theoretischer Ebene ist ein solches Verhalten nicht überraschend: Wer einer Vorstellungswelt anhaftet, derer zufolge er ein Recht auf den Zugriff auf weibliche Körper ohne Gegenleistungen hat (… und diese Vorstellungswelt teilen einige/viele/die meisten Männer in Deutschland in verschiedenen Ausprägungsgraden), wird nicht zu einem frommen Lamm, sobald er Geld für etwas, das ihm in gewisser Hinsicht frei Haus zusteht, hingelegt hat. Aus theoretischer Perspektive steht vielmehr zu befürchten, dass diejenigen, die dieser brutalen Vorstellung anhängen, dann erst recht gewalttätig werden. Hat man bezahlt, kann man mit gutem Gewissen noch mehr erzwingen als das, was man ohne Gegenleistung aggressiv durchsetzen würde. Mehr noch: Aufgrund der spezifischen Herrschaft im Geschlechterverhältnis ist männlich-lustvolle Sexualität oftmals an die (sexuelle) Degradierung von Frauen gebunden. Wer derartige sexuelle ‚Vorlieben‘ hat, wird sie in der Prostitutionssituation befriedigt sehen wollen. Situationen in der Sex-Arbeit/Prostitution bergen also aufgrund der spezifischen Gewalt im Geschlechterverhältnis außerhalb der Prostitution permanent die Gefahr, sich zu massiver (sexualisierter) Gewalt zu entwickeln, die über die grundsätzliche Potentialität des Gewalterlebens im Verkauf von Sex als solchem hinausreicht.

In Übereinstimmung mit dem, was auf theoretischer Ebene zu erwarten ist, beschreiben prostitutionskritische Frauen aus der Prostitution schwere sexuelle Übergriffe in der von ihnen ausgeübten Prostitution. So berichtet etwa Huschke Mau (2022) davon, dass Freier während der Absprache immer wieder in aggressiver Weise auf bestimmte Handlungen gedrängt hätten. Sie beschreibt es als zermürbend, diese männlichen Versuche, die von ihr gesetzten Grenzen zu dehnen und zu durchbrechen, abgewehrt haben zu müssen. Auch während des Geschlechtsverkehrs kam es immer wieder dazu, dass sich Freier nicht an Absprachen gehalten und etwas getan haben, das von ihr zuvor dezidiert ausgeschlossen worden ist – z.B. versuchten sie, das Kondom abzustreifen (was eine Ansteckungsgefahr mit schweren Krankheiten mit sich bringt, also im schlimmsten Fall dem Versuch der fahrlässigen Tötung entspricht), und führten sexuelle Praktiken durch, die Huschke Mau zuvor ausgeschlossen hatte. Sie beschreibt auch sadistische Freier, die Frauen explizit demütigen und bei ihnen Angst hervorrufen wollen, weil sie dies als sexuell erregend empfinden. Sie berichtet zudem, die Folgen von Freiergewalt an anderen Frauen im Wohnungsbordell beobachtet zu haben.

Auch Daria Ivanovicova beschreibt massive Freiergewalt, die sie selbst erlebt hat, bzw. lässt andere Frauen in Bezug auf Freiergewalt zu Wort kommen. Sie hat sich im Escort prostituiert (ohne Zuhälter und nicht als Opfer von Menschenhandel).[22] Die nachfolgende Beschreibung einer expliziten Gewalthandlung während der Prostitution ist ihrem Instagram Account entnommen:

„Der Schmerz ist unbeschreiblich. Ich versuche dem Fernseher im Hintergrund zuzuhören. Ich hab mir angewöhnt, sobald der Freier im Bad ist den Fernseher anzumachen um etwas zu haben an das ich mich festhalten kann. Ich brauch jetzt immer ein Geräusch beim S_x. Es gab mal einen, der mit mir während dem Termin über Politik geredet hat und dass er für die Todesstrafe ist, während er mir unaufhörlich Schmerzen zufügt. Es ist grotesk, wie man bei einem Gewaltakt versucht der Tagesschau zuzuhören. Er erzählt mir davon wie er andere Frauen misshandelt hat und dass ich ja ganz schön was wegstecken kann. Ich werde zum AO [alles ohne Kondom] gezwungen, ohne mindestens FO [Fellatio ohne Kondom] bzw. FT [Fellatio ohne Kondom mit Ausspucken] kommt man nicht weit. Als ich wenigstens ausspucken will als er mir in den Mund kommt, werde ich am Pferdeschwanz zurück gezogen und mir auf die Wange geschlagen. Ich muss schlucken und meine Zunge rausstrecken. Es ist widerlich, ich hab tagelang keinen Appetit mehr. Ich schiele immer wieder auf die Uhr im Fernsehbildschirm und es scheint kein Ende zu nehmen. Er will die 2 Stunden für die er bezahlt hat voll nutzen, obwohl ich mittlerweile nicht mehr gerade stehe und nicht mal mehr Lust Faken kann, sondern es nur noch über mich ergehen lasse. „Das ist normal, dass du schwächest“ und ich frage mich, wie viele Frauen vor mir bei ihm schon resigniert haben. Er will ein neues Treffen buchen. Ich sage nein, so lange, bis mich die Existenzangst wieder an Pferdeschwanz packt, mir ins Gesicht schlägt und ich ihr die Zähne zeigen muss.“

Dieses von Huschke Mau und Daria Ivanovicova beschriebene Verhalten von Freiern, das explizit gesetzte Grenzen nicht respektiert und Lust aus der (sexuellen) Demütigung von Frauen zieht, steht im Einklang mit der Vorstellung, ein Recht darauf zu haben, über den weiblichen Körper zu verfügen – teils unabhängig davon, was der artikulierte Wille der Frau ist, teils jedoch gerade weil es dem artikulierten Willen widerspricht. Es steht zu vermuten, dass solch massive Freiergewalt, während derer die artikulierten Grenzen der Frauen grundlegend missachtet werden, in der Prostitution systematisch auftritt, eben weil die Vorstellungswelt eines Verfügungsrechts außerhalb der Prostitution gesellschaftlich dominant ist und weil diese Vorstellung in der Prostitution zusätzlich befeuert wird.[23]

Die Annahme einer Systematik von expliziter Grenzverletzung und massiver Gewalt in der Prostitution schließt dabei keinesfalls aus, dass manche Sex-Arbeiter:innen noch nie Freiergewalt erlebt haben – so wie auch die feministische Feststellung einer Systematik von sexualisierter Gewalt außerhalb der Prostitution nicht unterstellt, dass alle Frauen bzw. Personen, die als cis-weiblich wahrgenommen werden, außerhalb der Prostitution sexualisierte Gewalt erleiden mussten. Auch schließt eine Systematik von Grenzverletzungen in der Prostitution nicht aus, dass es ‚nette‘ Freier, die die artikulierten (sexuellen) Grenzen wahren, gibt – ebenso wenig wie die Annahme einer Systematik von sexualisierter Gewalt außerhalb der Prostitution unterstellt, dass alle Männer innerhalb von cis-heterosexuellen Begegnungen außerhalb der Prostitution explizit kommunizierte Grenzen von Frauen missachten.[24]

Dass viele/die meisten Freier keine respektvollen Kunden von harmlosen Dienstleistungen sind, deckt sich mit meinen Erfahrungen. Ich habe mich nie prostituiert, bin aber seit meiner Jugend von Freiern als Prostituierte angesprochen worden. Mir ist bewusst, dass nicht alle Frauen außerhalb der Prostitution diese Erfahrung machen. Dass dies bei mir der Fall war, liegt unter Umständen daran, dass ich als junge Frau aus armen Verhältnissen im Unterschied zu mancher Tochter von Ärzt:innen oder Lehrer:innen so aussah, als könnte ich die Kohle gut gebrauchen, dass ich mich in meiner Jugend viel an Bahnhöfen herumgetrieben habe und dass ich in der Nähe vom Straßenstrich gewohnt bzw. gearbeitet habe. Besonders als junge Frau haben mir die Freier, die mich angesprochen haben, wahnsinnige Angst gemacht. Ich war als junge Frau von dem lüstern-aggressiven ‚Angebot‘, dass man mir 20/50/100 Euro dafür zahlen will, wenn ich ihnen einen blase/mich von ihnen ficken lasse, verstört und habe das ‚Angebot‘ als ähnlich angsteinflößend und widerlich empfunden wie das Verhalten von Männern, die sich im Nahverkehrszug vor meinen Augen mit Blick auf mich einen runtergeholt haben. Ich bin von Freiern vielfach, sowohl als junge als auch als nicht mehr ganz so junge Frau, misogyn und prostituiertenfeindlich beschimpft worden, ich bin von ihnen auf ekelhafte Weise mit Blicken ‚beurteilt‘ und belästigt worden und zwei Mal bin ich von Freiern, die augenscheinlich in Bezug auf das von mir artikulierte „Verpiss dich!“ Verständnisprobleme hatten, in ihren Autos unter Beschimpfungen und Bedrohungen verfolgt worden. Weil ich diese Blicke, die Beschimpfungen und die Verfolgungen als so bedrohlich empfunden habe, habe ich mich teils anders gekleidet und bin andere Wege gegangen. Weil Frauen und andere vulnerable Personen natürlich nie die Verantwortung für zudringliches Verhalten tragen, hat diese Strategie nur bedingt Erfolge gezeigt.[25]

Auf einer allgemeineren Ebene führen Freierforen für Außenstehende relativ lebendig vor Augen, wie wenig Interesse viele/die meisten Freier an den (sexuellen) Grenzen von Frauen in der Prostitution haben bzw. teils auch, wie viel Lustgewinn sie daraus ziehen, diese Grenzen zu brechen. Vielleicht auch deswegen, weil viele Lesende vor der Menschen- und Frauenverachtung in diesen Foren erschrecken, weisen immer wieder Stimmen darauf hin, dass diese Foren nicht die Perspektive aller Freier wiedergeben würden bzw. dass sie für die Gruppe von Freiern nicht repräsentativ seien. Andere Stimmen betonen ihre Repräsentativität vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen (z.B. Mau, 2022). In einem offenen Brief beschreibt Huschke Mau das Bild, das Freierforen bieten, folgendermaßen: „Lies doch mal in den Freierforen […], da steht sehr deutlich, dass Männer (Freier) es als Ausdruck ihrer Macht empfinden, wenn sie Frauen im Bordell ins Gesicht spucken, ihr das Sperma ‚reinspritzen‘ dürfen; wenn sie in Sachen Analverkehr schauen wollen, wieviel die Frau ‚verträgt‘; wenn sie ihr ins Gesicht spritzen und wollen, dass sie das Sperma schluckt, nachdem sie, die Freier, ihr den Schwanz bis an die Mandeln reingewürgt haben.“

Unabhängig davon, ob das aus Freierforen gewonnene Bild repräsentativ ist oder nicht, ist es aus feministischer Perspektive bereits hochgradig beunruhigend, wenn sehr viele Freier eine systematisch grenzverletzende Perspektive auf Frauen in der Prostitution einnehmen – wie sie in den Freierforen, oftmals deutlich gravierender als oben wiedergegeben, zum Ausdruck kommt. Denn in anderen feministischen Themenfeldern verhält es sich analog: Um z.B. sexualisierte Gewalt im Geschlechterverhältnis außerhalb der Prostitution als massives gesellschaftliches Problem anzuerkennen, benötigen wir als Feminist:innen ebenfalls nicht den Nachweis, dass die meisten/fast alle Männer Frauen und Personen, die sie als cis-weiblich wahrnehmen, außerhalb der Prostitution massiv sexuell belästigen, nötigen oder vergewaltigen. Der Umstand, dass viele Männer dies tun, reicht uns aus, um von einem massiven gesellschaftlichen Missstand, der aus feministischer Perspektive bekämpft werden muss, auszugehen. Ebenso ist der Nachweis, dass sehr viele Freier per Selbstauskunft in Foren systematisch die von Frauen in der Prostitution gesetzten (sexuellen) Grenzen missachten und Lustgewinn aus ihrer (sexuellen) Demütigung ziehen, ausreichend, um massive sexualisierte Gewalt in der Prostitution durch Freier als gravierendes Problem anzuerkennen.

Vor diesem Hintergrund der empirischen Evidenz in Freierforen, der Berichte von Frauen aus der Prostitution von regelmäßigen massiven Gewalthandlungen an ihnen und an anderen Frauen, meiner eigenen im Verhältnis dazu absolut harmlosen, für mich jedoch verstörenden Erfahrungen mit Freiern und aufgrund von theoretischen Erwägungen, die nahelegen, dass es im Prostitutionsgeschehen zu einer Zuspitzung der sexualisierten Gewalt außerhalb der Prostitution kommt, ist mir unverständlich, dass zahlreiche sex-work positive Feminist:innen die Gesamtgruppe der Freier als ‚Kund_innen von Sex-Arbeiter:innen‘ verharmlosen. Während sich beim Brotkauf keine Systematik von (sexualisierter) Gewalt offenbart und wir daher mit guten Gründen wertneutral von ‚Kund:innen in der Bäckerei‘ sprechen können, ist die Prostitution jedoch systematisch von Grenzverletzung und Gewalt durchzogen. Diese Gewalt geht von diesen ‚Kunden‘ aus und sie reicht sowohl deutlich über die Potentialität von Gewalt im Tauschverhältnis (siehe oben) als auch über die Gewalttätigkeiten, die Frauen und andere sexuell vulnerable Personen außerhalb der Prostitution erleiden, hinaus.

Manche sex-work positive Feminist:innen gehen bezüglich der ‚Kund_innen von Sex-Arbeiter:innen‘ noch weiter. Vermutlich aus dem feministischen Impuls heraus, die Interessen von selbstbestimmten Sex-Worker:innen zu wahren, nehmen manche Personen die Gesamtgruppe von Freiern vor Frauen aus der Prostitution und vor anderen Feminist:innen dezidiert in Schutz. So schlossen die Organisator:innen der Demonstration zum feministischen Kampftag in Kassel 2022 alle Feminist:innen offiziell und explizit aus, die eine Kriminalisierung von Freiern befürworten. Wohl auch wegen dieser Entscheidung wurden Demonstrationsteilnehmer:innen vehement dazu aufgefordert, das Schild ‚Freier sind Täter‘ herunterzunehmen. Stimmen, die das Gewalthandeln von Freiern betonen, sollten also verstummen. An anderer Stelle heißt es im Feminismus „Mackern aufs Maul!“ oder „Feminismus oder Schlägerei!“. Sobald Männer in ihrer Rolle als Freier Frauen und anderen vulnerablen Personen Gewalt antun, werden sie jedoch aus der Gruppe von Mackern, Sexisten und Antifeministen herausgenommen und zu einer diskriminierten Gruppe umgedeutet, die man vor der Wut von Frauen aus der Prostitution und vor anderen Feminist:innen meint in Schutz nehmen zu müssen. Dass Feminist:innen, die das Gewalthandeln von Männern anprangern, genau deswegen von anderen Feminist:innen angegangen werden, ist eine beunruhigende Entwicklung.

Gewalt gegen prostituierte Frauen, in der die explizit artikulierten (sexuellen) Grenzen gedehnt oder missachtet werden und in der Lustgewinn aus der (sexuellen) Demütigung von Frauen gezogen wird, durchzieht die Prostitution systematisch. Diese Systematik resultiert aus der sexistischen Gewalt und Herrschaft außerhalb der Prostitution – sie ist Ausdruck der stark verankerten brutalen Idee eines männlichen Zugriffsrechts auf den weiblichen Körper. Im Prostitutionsverhältnis wird diese brutale Vorstellung zusätzlich befeuert. Auch deswegen, weil prostituierte Frauen massive sexualisierte Gewalt durch Freier erleiden, muss eine Kritik der Prostitution fester Bestandteil feministischer Debatten bleiben.

Konsequenzen für Gewalt außerhalb der Prostitution

Die Prostitution bringt jedoch nicht ‚nur‘ mit sich, dass sehr viele/die meisten Freier die brutale Idee eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper und ihr sexuelles Bedürfnis nach einer (sexuellen) Degradierung von Frauen innerhalb der Prostitution weitestgehend ungehemmt und sanktionslos ausleben, sondern sie zeitigt potentiell auch Konsequenzen für Gewalt und Herrschaft im Geschlechterverhältnis außerhalb der Prostitution.[26]

Aus theoretischer Perspektive erkennt der Tausch von Geld gegen Sex das männliche Verfügungsrecht über den weiblichen Körper prinzipiell an, indem der Tausch das Verfügungsrecht zu regulieren versucht. Das männliche Verfügungsrecht über den weiblichen Körper außerhalb der Prostitution ist nämlich zentral durch die Vorstellung charakterisiert, dass es legitim sei, eine Situation bei Missachtung der sexuellen Wünsche von Frauen einseitig zu sexualisieren. Die männlichen Wünsche, Bedürfnisse und Impulse sind zentral, während die tatsächlichen sexuellen Wünsche von Frauen irrelevant sind – oder ihre Unlust wird dann relevant, wenn die Verletzung ihrer Grenzen für den Mann luststeigernd wirkt. Diese Perspektive auf legitime männliche und weibliche Sexualität, das dem männlichen Zugriffsrecht außerhalb der Prostitution unterliegt, charakterisiert zentral die Prostitutionssituation: die sexuelle Lust von Männern soll befriedigt werden, während die tatsächliche sexuelle (Un-)Lust von Frauen irrelevant ist. [27]

Entsprechend ist es relativ wahrscheinlich, dass Männer ihre Erfahrungen aus der Prostitution in die Welt außerhalb der Prostitution mitnehmen, weil es strukturelle Überschneidungen zwischen frauenverachtenden Vorstellungen von legitimer Sexualität außerhalb und innerhalb der Prostitution gibt. Diejenigen Männer, die vor der Prostitutionserfahrung der Vorstellung zugeneigt haben, über ein Verfügungsrecht über den weiblichen Körper zu verfügen, werden sich durch die Prostitution darin bestätigt wähnen, dass weibliche (Un-)Lust dem männlichen sexuellen Bedürfnis nachgelagert ist. Diejenigen Männer, die es in der Prostitutionssituation eingeübt haben, dass sie gegen den Tausch von 20/50/200/1500 Euro ihre sexuellen Wünsche und das Bedürfnis nach sexueller Demütigung bei Missachtung der tatsächlichen sexuellen Wünsche von Frauen in der Prostitution vollumfänglich befriedigt bekommen, werden mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch in anderen Situationen kein grundlegendes Problem darin erkennen, wenn sexuelle Begegnungen nicht beidseitig konsensual verlaufen.

Auch diejenigen Freier, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie in der Prostitutionssituation aufgrund einer hohen Vulnerabilität von prostituierten Frauen häufig/fast immer ganz ohne Sanktionen massiv gewalttätig werden können, werden diese Erfahrung vermutlich in ihre soziale Welt außerhalb der Prostitution mitnehmen. Wer es auf diese Weise in der Prostitutionssituation eingeübt hat, Frauen zu herabwürdigenden sexuellen Handlungen zu nötigen und explizit gesetzte Grenzen zu missachten, wird es mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch außerhalb der Prostitution tun. Denn Sexualität und unsere Vorstellungen davon, was lustvoll, legitim und wünschenswert ist, sind nicht in Stein gemeißelt, sondern sie werden ganz maßgeblich von gesellschaftlichen Normen, medialen Bildern und vorangegangenen Erfahrungen geprägt. Auch deswegen ist es also wahrscheinlich, dass Prostitution die Vorstellung eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper außerhalb der Prostitution und damit sexualisierte Gewalt gegen Frauen und gegen Personen, die als cis-weiblich wahrgenommen werden, außerhalb der Prostitution befeuert. Einer aktuellen repräsentativen Umfrage zufolge haben in Deutschland knapp 30% der Männer mindestens einmal in ihrem Leben für Sex bezahlt – diejenigen, die Sex kaufen, haben dies im Schnitt rund 7 Mal in ihrem Leben getan.[28] Auch wenn im Prostitutionsgeschehen nicht immer die explizit gesetzten Grenzen gedehnt oder missachtet werden, geschieht dies im Mindesten sehr häufig. Vor dem Hintergrund des sehr hohen Aufkommens von Sexkauf in Deutschland muss daher davon ausgegangen werden, dass sexualisierte Gewalt in der Prostitution, innerhalb derer explizit gesetzte Grenzen gedehnt oder gebrochen werden oder Lustgewinn aus der sexuellen Demütigung gezogen wird, eine regelmäßig praktizierte Form sexualisierter Gewalt in der Bundesrepublik darstellt.

Es gibt Personen (innerhalb der Linken), die der Meinung sind, Prostitution würde Vergewaltigungen reduzieren und müsse auch deswegen aufrechterhalten werden. Diese Vorstellung ist erstens prostituiertenfeindlich, weil sie es Frauen in der Prostitution explizit zumutet, mit gewalttätigen Männern Sex zu haben, um vermeintlich zum Schutz anderer Frauen außerhalb der Prostitution beizutragen. Zweitens ist diese Vorstellung zudem aus theoretischen Erwägungen unzutreffend. Männer vergewaltigen nicht deswegen, weil sie einer regelmäßigen Triebabfuhr bedürften (… bei dieser Vorstellung handelt es sich um einen misogynen Vergewaltigungsmythos zur Entlastung gewalttätiger Männer). Sie vergewaltigen, weil sie sich dazu berechtigt wähnen, ihr (sexuelles) Dominanzbedürfnis am Körper und in der Sexualität von Frauen und von als cis-weiblich wahrgenommenen Personen durchzusetzen. Da Prostitution, wie beschrieben, diese Vorstellungswelt eines Zugriffsrechts befeuert, führt Prostitution im Unterschied zur Vorstellung einer Reduktion von Vergewaltigungen eher dazu, sexualisierte Gewalt außerhalb der Prostitution zu verfestigen.

Als Feminist:innen beobachten wir in Deutschland auf zahlreichen gesellschaftlichen Ebenen seit einigen Jahrzehnten progressive Entwicklungen: Bestimmte sexistische und queerfeindliche Äußerungen, die vor 20 Jahren öffentlich sagbar waren, erfahren nun laut vernehmbaren Widerspruch. Auch sind in Bezug auf die reproduktive Selbstbestimmung positive Entwicklungen zu verzeichnen. Zudem haben feministische Stimmen zur sexuellen Selbstbestimmung von Frauen und anderer vulnerabler Personen Eingang in die öffentlichen Debatten gefunden. Die #metoo Bewegung hat dazu geführt, dass sexueller Belästigung im Alltag breite Aufmerksamkeit eingeräumt wurde. Das ‚System Julian Reichelt‘, das auf Sex mit Mitarbeiterinnen basierte, erscheint einer breiten Öffentlichkeit indiskutabel.

Auf der anderen Seite ist es jedoch nicht empirisch nachweisbar, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen und gegen Personen, die als cis-weiblich wahrgenommen werden, rückläufig ist.[29] Als Feminist:innen sollten wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welche Rolle das System der Prostitution und die ihm inhärente Gefahr, die Vorstellung eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper in und außerhalb der Prostitution zu befeuern, bei der Aufrechterhaltung von sexualisierter Gewalt spielen. Warum haben sich die jahrzehntelangen feministischen Bemühungen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt in der Lebensrealität von Frauen und anderer sexuell vulnerabler Personen in und außerhalb der Prostitution bislang nicht niedergeschlagen, obwohl auf so vielen Ebenen positive Entwicklungen zu verzeichnen sind? Ohne suggerieren zu wollen, dass dies der einzige Grund sei, erscheint es plausibel, dass die Prostitution ebenso wie die misogyne (Mainstream-)Pornographie als gesellschaftliche Institutionen die feministischen Bestrebungen, ein progressives Verständnis von sexuellem Konsens breit zu etablieren („Nur ein lustvolles Ja ist ein tatsächliches Ja.“) und die Vorstellung eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper auf diese Weise zurückzudrängen, permanent unterlaufen.[30]

Die Prostitution ist eine um die Befriedigung männlicher sexueller Bedürfnisse zentrierte Institution, in der die tatsächliche (Un-)Lust von prostituierten Frauen fundamental missachtet wird. Die Prostitution befeuert damit das gewaltvolle Verhältnis zwischen den binären Geschlechtern außerhalb der Prostitution, das durch ein männliches Verfügungsrecht über den weiblichen Körper charakterisiert ist und männliche sexuelle Lust als Lust an der (sexuellen) Degradierung von Frauen hervorbringt. Entsprechend zementiert die Prostitution das männliche Verfügungsrecht über den weiblichen Körper – in und außerhalb der Prostitution. Auch wegen der möglichen Konsequenzen für das Leben von Frauen und als cis-weiblich wahrgenommener Personen außerhalb der Prostitution muss eine Kritik der Prostitution fester Bestandteil feministischer Debatten bleiben.

Exkurs: Sex-Work als Care-Work

Innerhalb feministischer Debatten finden sich Stimmen, die Sex-Arbeit als Care-Work verstehen. So wurde innerhalb der feministischen Streikbündnisse in Kassel und Wien Sex-Arbeit unter Care-Arbeit subsumiert – wobei diese Städte vermutlich keine Ausnahmen waren.[31] Darüber, aus welchen Gründen sich die Organisator:innen zu dieser Einordnung entschlossen haben, sind keine Informationen verfügbar.

Die Bezeichnung Care-Arbeit umfasst üblicherweise gesellschaftlich notwendige Arbeit – also Tätigkeiten, denen in einer Gesellschaft, die an den menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet ist, nachgegangen werden muss, wie etwa die Betreuung von Kindern oder die Pflege und Unterstützung hilfsbedürftiger Personen. All diese Aufgaben werden trotz ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit im Allgemeinen abgewertet und die Verantwortung für diese Aufgaben wird vielfach Frauen bzw. als cis-weiblich wahrgenommenen Personen zugeschrieben.[32] Auch deswegen drängen Feminist:innen seit Jahrzehnten darauf, diese gesellschaftlich notwendigen Arbeiten, die nicht die Anerkennung erfahren, die ihnen gebührt, gesellschaftlich aufzuwerten.

Die Nennung von Sex-Arbeit als Care-Arbeit suggeriert eine gesellschaftliche Notwendigkeit von Sex-Arbeit – also entsprechend die Idee, dass Sex-Arbeit in der aktuellen Form einer Asymmetrie in der sexuellen Lust in einer befreiten, an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Gesellschaft Bestand haben muss, weil sie gesellschaftlich notwendig sei. [33] Dies würde die Vorstellung implizieren, dass bestimmte Personen ihre sexuellen Bedürfnisse von anderen Menschen befriedigt bekommen müssen, auch wenn diese anderen Personen keinen inneren Wunsch nach diesen Begegnungen verspüren. In einer ansonsten befreiten Gesellschaft ohne ökonomische Zwänge könnte ein solches Verhältnis nur über ein Recht auf Sex begründet werden. Einer solchen Idee eines Rechts auf Sex ist jedoch aus feministischer Perspektive grundlegend und ohne Relativierung zu widersprechen. Die meisten/fast alle von uns haben sexuelle Bedürfnisse, aber niemand von uns hat ein Recht darauf, dass diese sexuellen Bedürfnisse durch andere Personen befriedigt werden. Denn ein Recht darauf würde notwendig mit sich bringen, dass bestimmte Personen unabhängig von ihrer (sexuellen) Lust dieses Recht einzulösen haben. Aufgrund des misogynen Charakters ist die Vorstellung von einem Recht auf Sex am stärksten unter Incels und unter anderen Personen, die Gewalt gegen Frauen befeuern, verbreitet. Ich bin mir unsicher, ob einige Feminist:innen, die Sex-Arbeit als Care-Arbeit einordnen und diese damit in eine Linie mit gesellschaftlich notwendiger Arbeit stellen, tatsächlich explizit von einem Recht auf Sex in einer befreiten Welt ausgehen. Unabhängig von ihrer expliziten Argumentation läuft die Nennung von Sex-Arbeit in einem Zusammenhang mit gesellschaftlich notwendiger Arbeit Gefahr, in das skizzierte hochgradig misogyne und menschenverachtende Fahrwasser zu schlittern.[34]

Möglicherweise begreifen sex-work positive Feminist:innen Sex-Arbeit deswegen als Care-Arbeit, weil es sich im Wortsinn um eine umsorgende Tätigkeit handeln würde. Tatsächlich berichtet auch Huschke Mau davon, dass eine Therapeutin, bei der sie sich Unterstützung aufgrund ihrer sexuellen Traumatisierung erhofft hatte, ihr in etwa Folgendes empfohlen hat: „Betrachten Sie es doch einmal so: Sie haben ganz viel Liebe gegeben.“ (Mau, 2022). Augenscheinlich sitzen also einige Personen der Fehldeutung auf, das Prostitutionsverhältnis sei von Sorge und Liebe durchzogen. Möglicherweise geht diese Fehldeutung der Prostitution als gesellschaftliches Verhältnis darauf zurück, dass einige Sex-Worker:innen ihre (bisherige) Tätigkeit tatsächlich als umsorgend beschreiben. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung ist die Prostitution jedoch systematisch durch massive Gewalt gegen Frauen charakterisiert. Entsprechend mögen bitte alle Feminist:innen, die Sex-Arbeit als umsorgende und liebende Care-Arbeit verstehen, das obere längere Zitat von Daria Ivanovicova noch einmal lesen und sich bitte vorstellen, wie sie dieser jungen Frau nach ihrer Lektüre ins Gesicht sagen: „Betrachte es doch einmal so: Du hast ganz viel Liebe gegeben.“


4. Erzwungener Verkauf von Sex: Ökonomische Not und Zwangsprostitution

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Im nachfolgenden Kapitel setze ich mich damit auseinander, unter welchen Bedingungen Frauen in die Prostitution gedrängt und dort gehalten werden. Entsprechend geht es hier auch um ökonomische Perspektivlosigkeit und Situationen, in denen Dritte den Verkauf von Sex erzwingen, also um Zuhälterei, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution.

Bislang habe ich dargestellt, dass der Verkauf von Sex als solcher von etlichen Frauen in der Prostitution als degradierend, demütigend und gewaltvoll erlebt wird und dass die Prostitution systematisch von massiver Freiergewalt, die die artikulierten Grenzen der Frauen dehnt und missachtet und Lust aus ihrer (sexuellen) Demütigung zieht, durchzogen ist. Trotz dieser Faktoren, die ganz stark gegen die Prostitution sprechen, sind Schätzungen zufolge rund 250.000 Frauen in Deutschland in der Prostitution – andere Schätzungen gehen von rund 400.000 Personen aus. Ein maßgeblicher Grund, warum Frauen trotz der grundsätzlichen Potentialität und Realität massiver sexualisierter Gewalt in die Prostitution gehen und dort bleiben, ist ökonomische Not, die keine Perspektive auf andere Formen der ökonomischen Reproduktion lässt. Zudem ist die Prostitution systematisch davon durchzogen, dass Dritte, also Menschenhändler und Zuhälter, diese Frauen mit vielfältigen Mitteln in die Prostitution nötigen (z.B. emotionale Manipulation, Drohungen) und sie mit ebenso vielfältigen Mitteln dazu nötigen, sich weiter zu prostituieren (z.B. mit Einschüchterungen, Drohungen, einer vermeintlichen Verschuldung sowie körperlicher und sexualisierter Gewalt).

In Deutschland ist die Gesetzeslage zur Prostitution vergleichsweise liberal. Prostitution ist hier seit Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes im Jahr 2002 legal und sie gilt seitdem nicht mehr als ‚sittenwidrig‘.[35] Verschiedene Stimmen weisen darauf hin, dass sich die Prostitution in Deutschland seitdem stark gewandelt habe. Wirklich verlässliche Daten zum Ausmaß der Prostitution, zu den Merkmalen der Frauen in der Prostitution und zum Aufkommen eines strafrechtlich relevanten Erzwingens der Prostitution liegen weder für Deutschland noch für andere Länder vor. Bei der nachfolgenden Rekonstruktion greife ich daher auf Berichte von Aktivistinnen aus der Prostitution und auf Einschätzungen durch die staatliche Exekutive zurück. Da diese Quellen ein ungeheuer dramatisches Bild vom Prostitutionsgeschehen in Deutschland skizzieren, möchte ich voranschicken, dass ich trotz dessen aktuell keinen maßgeblichen Grund dafür sehe, diese Einschätzungen grundlegend in Zweifel zu ziehen – auch wenn die Realität hiervon im Detail abweichen mag. Insbesondere die Stimmen von Polizist:innen, die jahrelang, teils in hoher Funktion, mit der Bekämpfung von Menschenhandel in der Prostitution befasst waren und aufgrund dieser Tätigkeit mit verschiedenen Prostitutionsbereichen konfrontiert waren, erscheinen mir verlässlich. Ich sehe keinen Anhaltspunkt dafür anzunehmen, dass Mitarbeiter:innen polizeilicher Behörden die Situation von Frauen in der Prostitution überdramatisieren sollten. In meinen Augen gäbe es für ein solches Agieren keinen systematischen Grund.[36]

So beschreibt Helmut Sporer (2021), ein Kriminalbeamter, der in der Vergangenheit als Sachverständiger zu Ausschüssen des Bundestags zum Thema Prostitution geladen worden ist und der jahrelang ein Kommissariat zur Bekämpfung von Menschenhandel geleitet hat, folgende Entwicklung seit der Legalisierung der Prostitution in Deutschland:

„Die Zusammensetzung der Prostituierten hat sich in den letzten 25 Jahren völlig verändert. War Anfang der 1990 Jahre eine ausländische Prostituierte noch die absolute Ausnahme, dominieren Frauen aus dem Ausland inzwischen mit einem Anteil von rund 90 Prozent den Markt. Deutsche Prostituierte machen maximal noch rund 10 Prozent aus, wobei die Zusammensetzung je nach Prostitutionsbereich unterschiedlich ist. In sogenannten Nischenbereichen wie SM-Studios oder Luxusappartements findet man einen hohen Anteil an deutschen Frauen, während in den sogenannten Massenbetrieben wie Großbordellen, Laufhäusern oder FKK-Clubs oder auch in der Straßenprostitution kaum noch deutsche Frauen anzutreffen sind. Entsprechend unterscheiden sich auch die Persönlichkeitsstrukturen der Frauen. In Nischenbereichen, die einen Marktanteil von maximal 5 % haben dürften, arbeiten meist selbstständige, eigenorganisierte Frauen. Hier gibt es nur sehr selten Anlass für Verdachtsmomente auf Milieustraftaten (Zuhälterei, Zwangsprostitution, Menschenhandel etc.). Völlig anders ist die Situation jedoch in den Massenbetrieben, die einen Großteil der Szene darstellen. Dort findet man sehr viele Frauen, die aufgrund ihrer Persönlichkeit, Bildung, Alter, Verhalten, Aussehen, Herkunft oder Begleitung den Verdacht begründen, Opfer eine Milieustraftat zu sein. Auch wenn diese Frauen Opfer sind, geben sie dies bei Kontrolle so gut wie nie an [Erklärung: u.a. aus Angst vor den Zuhältern/Menschenhändlern]. Ihre Opfereigenschaft bestätigen sie in den allermeisten Fällen erst nach umfangreichen Ermittlungen in ihrem Umfeld und nachdem die Täter festgenommen sind. Diese Erfahrungen habe ich in jahrzehntelanger Ermittlertätigkeit mit vielen Dutzend Ermittlungsverfahren und Hunderten von Geschädigten gewonnen.“ (Sporer, 2021: 2)

Sporer beschreibt hier also in gewisser Hinsicht eine Aufspaltung des Prostitutionsgeschehens in Deutschland: Auf der einen Seite beobachtet er eine relativ selbstbestimmte Form der Sex-Arbeit und auf der anderen Seite ein Prostitutionsgeschehen in ‚Massenbetrieben‘, das extrem von Straftaten gegen Frauen in der Prostitution durchzogen sei – wobei er den selbstbestimmten Bereich bei etwa 5% sieht. Bei den von Sporer benannten Straftaten handelt es sich um ganz gravierende Eingriffe in die (sexuelle) Selbstbestimmung. Mit Blick auf die von ihm genannten Straftatbestände geht er davon aus, dass in den sogenannten Massenbetrieben sehr viele Frauen erstens unter furchtbaren ‚Arbeitsbedingungen‘ tätig sind (z.B. in Bezug auf die Arbeitszeiten; die Anzahl von Freiern; die Möglichkeit, Freier abzuweisen oder spezifische Handlungen nicht anzubieten; den Verdienst, etc.) und dass sie zweitens zu dieser Form der Prostitution durch Dritte mittels emotionaler Manipulation (z.B. ‚Loverboy‘-Methode), durch Drohungen und Einschüchterungen oder durch körperliche Gewalt genötigt werden. Es handelt sich also um Frauen, die unter massiven Druck gesetzt werden und auf gravierende Weise z.B. mit schwerer Gewalt oder dem Tod bedroht werden und/oder massive körperliche Gewalt durch Dritte erfahren (z.B. an den Haaren reißen, den Kopf gegen die Wand schlagen, Vergewaltigung).

Zudem benennt er, dass insbesondere Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die insgesamt rund 90% der Frauen in der Prostitution ausmachen würden, gehäuft in jenem Bereich anzutreffen sind, der systematisch von Straftaten gegen die (sexuelle) Selbstbestimmung gekennzeichnet ist. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Frauen aus Ost- und Südosteuropa (Sporer, 2021), also um Frauen aus z.B. Rumänien, Bulgarien oder den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens – oftmals sind es Romnja oder die Frauen werden als solche wahrgenommen, wie auch die Einträge von Freiern über ‚Zigeunerinnen‘ in Freierforen erkennen lassen. Auch vor dem Hintergrund des massiven ökonomischen Gefälles zwischen Deutschland und den Ökonomien in diesen Regionen und aufgrund von antiziganistischer Gewalt und Diskriminierung sind es also gehäuft Frauen, die aus (krassen) Armutsverhältnissen stammen und die keine anderen Perspektiven für ihre ökonomische Reproduktion sehen. Vor dem Hintergrund seiner jahrelangen Erfahrungen geht Sporer (2021) davon aus, dass krasse Armut/Perspektivlosigkeit und/oder direkter Zwang in Form strafrechtlich relevanter Handlungen durch Dritte die Situation der allermeisten Frauen in der Prostitution charakterisiert. So spricht er davon, dass es „unstrittig ist, dass ein großer Teil der Frauen (in verschiedenen Ausprägungen) unfreiwillig in der Prostitution tätig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob hier je nach Bewertungsmaßstab von einem Anteil von 90 oder 70 oder nur 60 Prozent ausgegangen wird. Der Anteil ist immer zu hoch.“ (ebd.) Auch Huschke Mau (2022) und Sandra Norak berichten damit übereinstimmend von einem wahnsinnig hohen Anteil von Frauen, die unfreiwillig in der Prostitution sind – verstanden als eine Kombination aus massiver ökonomischer Not ohne alternative Perspektiven und/oder Handlungen durch Dritte, die den Verbleib in der Prostitution erzwingen. Auch wenn vor dem Hintergrund der unsicheren Datenlage alle Zahlen und Einschätzungen – sowohl diejenigen von Sporer, als auch die Eindrücke von Mau und Norak – lediglich als ungefähre Richtwerte verstanden werden können, zeichnet sich dennoch ein fürchterliches Bild der Prostitution in Deutschland ab.

Die Situation massiver strafrechtlich relevanter Gewalt gegen Frauen in der Prostitution, die ihre sexuelle Selbstbestimmung gravierend untergräbt, bringt Huschke Mau mit der Legalisierung von Prostitution in Deutschland in einen Zusammenhang. So beschreibt sie unter anderem in einem Fernsehinterview, dass sich unter dem Mantel der Legalität, also in den legalen (Groß-)Bordellen und Laufhäusern, ihrer Einschätzung nach eine umfassende Struktur von explizit ausbeuterischen, gewalttätigen und illegalen Verhältnissen entwickelt und etabliert habe.[37] Auch Sporer (2021) teilt diese Beobachtung und weist dezidiert darauf hin, dass sich Menschenhandel/Zwangsprostitution innerhalb der legalen Strukturen abspielen würde. Zwangsprostitution bedeutet also im Regelfall nicht, dass Personen in Kellerräumen festgehalten und dort vergewaltigt werden (… wie es sich vielleicht manche Personen vorstellen), sondern es ist vielmehr so, dass diese Frauen, die zur Aufrechterhaltung der Prostitution durch Dritte genötigt werden, in den ganz legalen Bordellen, den legalen Laufhäusern und auf dem legalen Straßenstrich anzutreffen sind:

„Die offizielle Fassade eines Bordells spiegelt […] nicht die tatsächlichen Gegebenheiten hinter den Kulissen […] wider. Ein bekanntes Beispiel für dieses Phänomen ist das Großbordell ‚Paradise‘ in Stuttgart. Deren Betreiber propagierten ihren Betrieb über Jahre hinweg als modernes Musterbeispiel einer ‚sauberen, legalen Bordellprostitution‘ und sie waren aus diesem Grund Stammgäste in vielen bekannten Talkshows […]. Einer der Betreiber hatte sogar eine eigene wöchentliche TV-Sendung erhalten und fungierte als ‚Bordellbewerter‘. Das ‚Paradise‘ galt in der Öffentlichkeit als moderner, sozialer und frauenfreundlicher Vorzeigebetrieb. […] 2013 ergab sich gegen das ‚Paradise‘ ein begründeter Verdacht. […] Die Blicke hinter die Fassade […] übertrafen alle Befürchtungen und offenbarten ein geschickt getarntes Netzwerk von schwerer und organisierter Kriminalität. Nach äußerst aufwändigen Ermittlungen wurden die Bordellchefs 2019 wegen vielfacher typischer Milieudelikte wie z.B. Beihilfe zum schweren Menschenhandel und Zuhälterei in 17 Fällen zu Haftstrafen bis zu 5 Jahren verurteilt. […] Es muss davon ausgegangen werden, dass hinter der vermeintlich sauberen Fassade ähnliche kriminelle Strukturen in vielen anderen Bordellen in Deutschland herrschen. Das zeigen auch Ermittlungen gegen weitere große Bordelle in Deutschland. Ohne die letztlich erfolgreichen Ermittlungen würde das ‚Paradise‘ auch heute noch als Vorzeigebordell gelten.“ (Sporer, 2021: 6)

Es ist allerdings nicht nur so, dass Frauen in der Prostitution innerhalb der legalen Strukturen mit illegalem Druck und Gewalt, die ihre (sexuelle) Selbstbestimmung gravierend untergraben, konfrontiert sind. Vielmehr gibt es auch Stimmen, die einen direkten Einfluss der Legalisierung von Prostitution auf Zwangsprostitution vermuten.[38] Ob ein solcher kausaler Einfluss tatsächlich besteht, lässt sich bislang weder zweifelsfrei belegen noch entkräften, weil absolut verlässliche Daten zu den entsprechenden Phänomen fehlen. Jedoch  legen empirische Studien einen solchen Einfluss vor dem Hintergrund des existierenden Datenmaterials durchaus nahe.[39] Da mir die Argumente auf einer theoretischen Ebene plausibel erscheinen, möchte ich sie nachfolgend wiedergeben, auch wenn der empirische Nachweis über den tatsächlichen Zusammenhang nicht zweifelsfrei erfolgen kann. Das Argument basiert zentral auf der Annahme, dass die Legalisierung von Prostitution die Nachfrage nach Prostitution stärken würde. Weil Prostitution in Deutschland für Freier legal ist und weil Zuhälter und Bordellbetreiber mit der Prostitution in Deutschland ganz legal wahnsinnig viel Geld machen können, besteht enormer Bedarf an Frauen in der Prostitution (Nachfrage). Weil die Prostitution jedoch zugleich von etlichen Frauen im Kern als demütigend, degradierend oder gewaltvoll empfunden wird und weil sie systematisch von massiver Freiergewalt durchzogen ist, sind nicht ausreichend viele Frauen mit alternativen ökonomischen Optionen dazu bereit, diese Nachfrage zu decken und in die Prostitution zu gehen bzw. dort zu bleiben. Entsprechend werden sie mit vielfältigen Mitteln in die Prostitution gedrängt bzw. dazu genötigt, sich weiter zu prostituieren, und sie werden aus Ländern ‚angeworben‘, in denen sie ökonomische Not und Perspektivlosigkeit erfahren. 

Basierend auf der oberen Beschreibung von Sporer (2021) erscheint es mir plausibel, dass sich solche Prozesse in Deutschland tatsächlich abgespielt haben: Hier sind es zu einem verschwindend geringen Anteil deutsche, relativ selbstbestimmte Frauen, die diesen Schritt gehen bzw. in der Prostitution bleiben – nicht alle deutschen Frauen, aber die allermeisten sehen für sich bessere Optionen. Es sind vielmehr zumeist Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die vor dem Hintergrund ökonomischer Not in ihren Herkunftsländern oftmals durch Dritte in die Prostitution genötigt wurden und dort vielfach durch Zwang (z.B. Manipulationen, Drohungen, physische Gewalt) gehalten werden – damit die Nachfrage gesättigt werden kann und sich so das Prostitutionsgewerbe im Schulterschluss mit (organisierter) Kriminalität an ihnen bereichert. Auch dem deutschen Staat fließen über Steuereinnahmen Mittel aus der Prostitution zu. Entsprechend hätte sich Deutschland aufgrund der Legalisierung der Prostitution und der Legalisierung geschäftlicher Aktivitäten rund um die Prostitution und parallel zur Freizügigkeit von EU-Ausländer:innen zum ‚Bordell Europas‘ entwickelt – einem Bordell, das im Hinblick auf das „Ausmaß der Prostitution“ und „das Ausmaß der Missstände“ mit „keinem anderen Land vergleichbar ist“ (Sporer, 2021: 7f.). Die zahlreichen Straftaten gegen die (sexuelle) Selbstbestimmung, die von Ermittlungsbehörden vermutet werden, bleiben hier in der Regel folgenlos. Denn die Behörden kommen in ihrer Ermittlungsarbeit, wie Sporer (2021) es beschreibt, gegen die ungeheuren Dimensionen von systematischer und organisierter Kriminalität nicht an. Ihre Arbeit wird zusätzlich dadurch erschwert, dass auch aufgrund der Legalisierung von Prostitution ein Anfangsverdacht notwendig ist, um mit Ermittlungen zu beginnen. So bleibt Deutschland trotz oder gerade wegen dieser Missstände und der dort auffindbaren ungeheuren illegalen und legalen Gewalt gegen Frauen ein riesiges Bordell, in das Freier aus anderen Ländern Europas für den „Prostitutionstourismus“ (Sporer, 2021: 7f.) einreisen.

Auch wenn also die Datenlage nicht absolut verlässlich ist, sprechen die Berichte von Aktivistinnen aus der Prostitution und von Kriminalbeamt:innen dafür, dass es auf der einen Seite einen sehr geringen Anteil von relativ selbstbewussten, zumeist deutschen Sex-Arbeiter:innen gibt, die ihrer Tätigkeit vor dem Hintergrund kapitalistischer Zwänge vergleichsweise selbstbestimmt nachgehen. Auf der anderen Seite erlebt ein sehr großer Anteil von Frauen in der Prostitution gravierende ökonomische Perspektivlosigkeit und bewegt sich in einem Milieu der (organisierten) Kriminalität, das sich innerhalb der legalen Strukturen entwickelt hat, in dem massiv schlechte ‚Arbeitsbedingungen‘ zur sexuellen Ausbeutung dieser Frauen herrschen und in dem das Erzwingen der Prostitution durch Drohungen, Einschüchterungen oder physische Gewalt zum selbst erlebten oder beobachteten Alltag gehört – das Erzwingen einer Tätigkeit, die von etlichen als herabwürdigend, gewaltvoll und demütigend erlebt wird und die von massiver Freiergewalt systematisch durchzogen ist. Wenn diese dramatische Beschreibung tatsächlich auch nur der Tendenz nach zutreffen sollte – und ich sehe aktuell keine Gründe, daran zu zweifeln –  dann wäre das gegenwärtige, gesellschaftlich dominierende System der Prostitution in Deutschland eine Institution der sexuellen Ausbeutung von und der seriellen sexualisierten Gewalt an Frauen. Denn es wären nicht relative Selbstbestimmung und relative Wahlfreiheit im Rahmen kapitalistischer Zwänge, aufgrund derer sich die meisten Frauen für die Prostitution entscheiden, sondern es wären vielmehr ökonomische Ausweglosigkeit und Gewalt durch Dritte, die sie in dieses System drängen und sie dort halten. Sex ohne sexuellen Konsens unter den Bedingungen fehlender Alternativen und illegaler Zwangshandlungen scheint mir aber nichts anderes zu sein als serielle sexualisierte Gewalt.

Aus sex-work positiver Perspektive wird die Problematisierung von Armut in der Prostitution kritisiert. So weisen manche sex-work positive Stimmen darauf hin, dass auch Frauen, die aufgrund von massiver ökonomischer Not in die Prostitution gehen, diese als erfüllend erleben könnten.[40] Weil Armut und ökonomische Perspektivlosigkeit das Prostitutionsgeschehen in Deutschland durchziehen, möchte ich mich mit diesem Gedanken kurz vor dem Hintergrund empirischer Evidenz auseinandersetzen. Es ist unstrittig, dass fast alle Frauen mit alternativen Optionen der ökonomischen Reproduktion nicht in die Prostitution gehen. So ist der Anteil von deutschen Frauen in der Prostitution in Deutschland insgesamt eher niedrig. Innerhalb dieser Personengruppe von Frauen in der Prostitution mit deutscher Staatsangehörigkeit dürfte es wiederum etliche Personen geben, die ebenfalls für sich keine anderen Möglichkeiten der ökonomischen Reproduktion sehen – vielfältige Gründe können auch bei deutschen Staatsbürgerinnen dazu führen, dass sie sich (ökonomisch) in der Prostitution gefangen sehen.[41] Relativiert man nun den vermuteten Anteil von deutschen Frauen mit alternativen Optionen in der Prostitution an der Gruppe von deutschen Frauen außerhalb der Prostitution in Deutschland, ist bei Vorliegen alternativer Optionen der Anteil von prostituierten Frauen verschwindend gering – vielleicht liegt er bei 0,05, bei 0,01 oder bei 0,001 %. Das wäre also eine mögliche Quote für Frauen, die sich relativ selbstbestimmt für full-service Sex-Work (also Prostitution) entscheiden und diese als (relativ) erfüllend erleben. Für die restlichen 99,95, 99,99 oder 99,999 % von deutschen Frauen mit alternativen Optionen stellt die Prostitution augenscheinlich keine wirkliche (dauerhafte) Option dar – aus Gründen, die z.B. das Empfinden sexueller Intimität, massive Freiergewalt oder die Anwendung von Zwangsmitteln durch Dritte betreffen können.[42] Nun gibt es keinen Grund anzunehmen, dass sich arme ausländische Frauen ohne alternative Optionen grundlegend von relativ privilegierten deutschen Frauen, z.B. im Hinblick auf ihre Grenzen der sexuellen Intimität, unterscheiden. Daher kann es sein, dass 0,05, 0,01 oder 0,001 % der Frauen, die durch ökonomische Not in die Prostitution gedrängt werden, diese Tätigkeit als erfüllend erleben – denn das entspricht in etwa dem Anteil von prostituierten Frauen bei Vorliegen alternativer Optionen. Tatsächlich dürfte ihr Anteil um ein Vielfaches niedriger liegen, weil die Bereiche, in denen relativ privilegierte Sex-Worker:innen tätig sind, deutlich bessere ‚Arbeitsbedingungen‘ aufweisen, weniger stark von Gewalt durch Dritte durchzogen sind und vermutlich seltener mit massiver Freiergewalt einhergehen als die Bereiche, die von ökonomischer Perspektivlosigkeit durchtränkt sind. Ein solch geringer Anteil von Frauen in der Prostitution, die durch ökonomische Not in die Prostitution gedrängt wurden und diese potentiell als erfüllend erleben, ist bei einer Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich dominierenden System der Prostitution absolut vernachlässigbar. Hingegen dürften in der verbleibenden Gruppe der 99,95, 99,99, 99,999 oder 99,9999 % von Frauen ohne ökonomische Alternativen sehr viele/die meisten/fast alle den Verkauf von Sex als solchen als gewaltvoll erleben und/oder regelmäßig massive Freiergewalt, die explizit gesetzte Grenzen dehnt oder missachtet und Lustgewinn aus der (sexuellen) Demütigung von Frauen zieht, erfahren und/oder durch Dritte zum Verbleib in der Prostitution genötigt werden.[43]

Bei den Leidtragenden dieses gesellschaftlich dominierenden Systems der Prostitution in Deutschland handelt es sich also hauptsächlich um arme Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, oftmals mit geringen deutschen Sprachkenntnissen, ohne enge soziale Bindungen in Deutschland außerhalb der Prostitution, ohne ein Wissen um die Rechte von Frauen in und außerhalb der Prostitution in Deutschland, ohne ein Wissen darüber, dass ihnen strafrechtlich relevante Gewalt angetan wird bzw. mit ungeheurer Angst, gegen gewalttätige Zuhälter/Menschenhändler auszusagen. Auch Huschke Mau und Sandra Norak haben sich in diesen gesellschaftlich dominierenden Bereichen prostituieren müssen – sie sahen für sich keine alternativen Optionen und sie sind in strafrechtlich relevanter Form Opfer von Zuhältern bzw. Menschenhändlern geworden. Sandra Norak wurde von ihrem Zuhälter tätowiert – sie wurde wie Vieh als Eigentum einer anderen Person mit einem Brandzeichen versehen. Der Mut dieser beiden Aktivistinnen, in Solidarität mit anderen Frauen über diese gesellschaftlich dominierenden Strukturen aufzuklären, verdient in meinen Augen die Anerkennung aller Feminist:innen. Auch wegen der hier dargestellten Zusammenhänge charakterisiert Huschke Mau die Prostitution nicht nur als sexistische, sondern auch als klassistische und rassistische, als (neo-)koloniale Institution – und zeigt sich auch hierin solidarisch mit den vielen sehr armen Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die sich in diesen hochgradig gewaltvollen Verhältnissen gefangen sehen.[44] Aufgrund des gravierenden Antiziganismus und eines spezifischen antislawischen Rassismus, der osteuropäische Frauen in der Prostitution trifft, kann diese Charakterisierung um den Zusatz ergänzt werden, dass es sich im deutschen Fall auch um eine postnationalsozialistische Institution handelt.[45] Im Unterschied zu Huschke Mau und Sandra Norak finden allerdings die wenigsten Frauen, die derart gravierende Einschnitte in ihre sexuelle Selbstbestimmung erleben, den Weg in die Öffentlichkeit, sofern sie sich aus diesen Verhältnissen befreien können. Die Situation von dieser Gruppe von prostituierten Frauen beschreibt Sporer (2021) mit Blick auf ihre Einbindung in politische Entscheidungen zur Prostitution folgendermaßen:

„Diese große Gruppe hat wegen ihrer persönlichen Situation wie Fremdbestimmung, fehlender Sprachkompetenz, fehlendem Kontakt zur Außenwelt etc. keine Gelegenheit sich öffentlich oder gar politisch zu äußern. Diese Gruppe hat keine Stimme und auch keine Lobby. Sie tritt auch nicht in Talkshows auf. Die Vorstellung, beispielsweise von einem 18jährigen rumänischen Mädchen ohne Deutschkenntnisse, das in einem Laufhaus anzutreffen ist, oder von einer bulgarischen Frau in der Straßenprostitution und einem Zuhälter im Hintergrund eine wahrheitsgemäße Äußerung zu ihrer persönlichen Lage, ihrem psychischen und physischen Zustand und ihren Wünschen zu erhalten, ist sehr theoretisch. So beschränkt sich der behördliche und politische Dialog [Ergänzung: sowie die Wahrnehmbarkeit über bestimmte Social-Media-Kanäle, über viele feministische Zeitungen, über feministische Publikationen zu Sex-Work in manchen linken Verlagen etc.] auf eine vergleichsweise kleine Gruppe von Personen, die in der Prostitution tätig sind, und die in der Lage sind, ihre Anliegen zu formulieren. Hier kann der falsche Eindruck entstehen, dass diese Minderheit auch für die Belange der großen Mehrheit der Frauen spricht. Das ist aber falsch, denn diese privilegierte Minderheit hat ganz andere Interessen und Bedürfnisse als die große ‚sprachlose‘ Mehrheit.“ (Sporer, 2021: 12)

Im sex-work positiven Feminismus wird die Situation dieser prostituierten Frauen, die die große Mehrheit von Frauen in der Prostitution ausmachen, nicht systematisch berücksichtigt. Stattdessen unterscheiden sex-work positive Feminist:innen schematisch zwischen Sex-Arbeit und Zwangsprostitution.[46] Ersteres ist ihrem Verständnis nach eine mit ‚anderen‘ Berufen vergleichbare Tätigkeit vor dem Hintergrund kapitalistischer Zwänge, wohingegen sie Zwangsprostitution verurteilen. Eine vermeintlich saubere Trennung dieser zwei Phänomene ist jedoch mit Blick auf die große Mehrheit von prostituierten Frauen nicht möglich.

So finden in dieser Zweiteilung aus relativ selbstbestimmter Sex-Arbeit und Zwangsprostitution die Frauen, die aufgrund von ökonomischer Not in die Prostitution gedrängt werden, keinen wirklichen Platz – Frauen, die den Einschätzungen von Sporer (2021), Huschke Mau und Sandra Norak den maßgeblichen Anteil in der Prostitution ausmachen. Allein deswegen, weil sich deutsche Frauen mit ökonomischen Alternativen so gut wie nie für die Prostitution entscheiden, kann davon ausgegangen werden, dass so gut wie alle diese Frauen ohne ökonomische Perspektiven nicht in der Prostitution sein wollen.[47] Entsprechend dürften etliche dieser Frauen den Verkauf von Sex als solchen als degradierend und gewaltvoll erleben; auch sind es mutmaßlich insbesondere sie, die massive Gewalt durch Freier erleiden. Für sehr viele/die meisten/fast alle dieser Frauen könnte sich die Prostitution also als systematische Abfolge sexualisierter Gewalt darstellen. Sind diese Frauen dann in den Kategorien des sex-work positiven Feminismus noch (relativ) selbstbestimmte Sex-Arbeiter:innen oder schon Zwangsprostituierte? Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil mir nicht bekannt ist, dass im sex-work positiven Feminismus die grundsätzliche Potentialität und Realität massiver sexualisierter Gewalt in der Prostitution systematisch mit dem Phänomen ökonomischer Not prostituierter Frauen in Verbindung gebracht wird.

Eine Einordnung dieser Mehrheit von prostituierten Frauen als relativ selbstbestimmte Sex-Arbeiterinnen wäre im Individualfall regelmäßig unzutreffend und daher gesellschaftsanalytisch falsch. Sollten sex-work positive Feminist:innen diese Frauen als relativ selbstbestimmte Sex-Arbeiterinnen, die einem ‚normalen Beruf‘ nachgehen, verstehen, müssten sie es als angemessen empfinden, diese Frauen mit dem Slogan ‚Sex-Work is Work!‘ empowern zu wollen. Auch wäre es dann angemessen, sich z.B. am Straßenstrich, vor einem Großbordell oder einem Laufhaus mit einem solchen Transparent aufzustellen und Flyer, die zum Kampf um bessere Arbeitsbedingungen aufrufen, zu verteilen. Wenn jedoch eine Frau Prostitution als sexuell missbräuchlich erlebt, ist ihr weder grundlegend mit einer vermeintlichen Anerkennung ihrer Tätigkeit als ‚Work‘, noch mit kürzeren Arbeitszeiten oder einem höheren Verdienst geholfen. Zumindest würden wir als Feminist:innen das für jeden anderen Bereich so einschätzen: Wenn eine Frau von ihrem Partner systematisch mit sexuellen Übergriffen drangsaliert wird, wären wir auch nicht der Ansicht, dass es grundlegend etwas ändert, wenn man die Anzahl der sexuellen Übergriffe etwas beschränkt, wenn sie von dem Partner ein höheres ‚Taschengeld‘ erhielte oder wenn man ihr für die von ihr erlittene Gewalt Anerkennung als ‚Work‘ zollt (… wir würden das wohl eher als massive Relativierung ihrer Gewalterfahrungen empfinden). Die Beendigung der sexuellen Übergriffe wäre das, worauf wir aus feministischer Perspektive hinarbeiten würden.

Aber auch eine Einordnung dieser großen Mehrheit von prostituierten Frauen als Zwangsprostituierte durch sex-work positive Stimmen wäre irritierend. Denn dann wäre unklar, warum sex-work positive Feminist:innen den sehr geringen Anteil von (relativ) selbstbestimmten Sex-Worker:innen zum Bezugspunkt ihrer feministischen Perspektive auf das System von Sex-Arbeit/Prostitution erklären und die große Mehrheit von prostituierten Frauen ausblenden. Sie würden dann bei einer Auseinandersetzung über Sex-Arbeit immer nur einen verschwindend geringen Anteil derjenigen, die sich prostituieren (müssen), meinen. Meiner Einschätzung nach stecken zahlreiche sex-work positive Feminist:innen das Themenfeld Sex-Arbeit/Prostitution auf vielfältige Weise so ab, dass systematische Gewalt gegen Frauen aus dem Fokus gerät. In den sex-work positiven Publikationen kommen fast ausschließlich selbstbewusste Akademiker:innen mit einer Vielzahl von Optionen, die sich auf bundesweiten Konferenzen zu Sex-Work oder auf performances zu diesem Thema einfinden, ausführlich zu Wort. Diese Sex-Arbeiter:innen bieten full-service sex-work ohne Zuhälter als Selbstständige in einem vergleichsweise geschützten Setting an und sie hatten die Möglichkeit, sich entsprechend ihres Empfindens von sexueller Intimität für diese Tätigkeit relativ selbstbestimmt zu entscheiden. Die wenigen deutschsprachigen aktivistischen Stimmen aus den in Deutschland dominierenden fremdbestimmten Prostitutionsbereichen, z.B. Huschke Mau und Sandra Norak, werden in sex-work positiven Kontexten nicht systematisch zur Kenntnis genommen, obwohl sie Expertise zu eben diesen Bereichen liefern. So setzen sich sex-work positive Feminist:innen in ihrer Perspektive auf Sex-Arbeit nicht intensiv mit denjenigen Frauen, die aufgrund von ökonomischer Not in die Prostitution gehen, auseinander – also nicht mit den Frauen, die im Großbordell oder auf dem Straßenstrich sind, die nicht die Möglichkeit hatten, sich relativ selbstbestimmt entsprechend ihrer Vorstellungen von sexueller Intimität für die Prostitution zu entscheiden und die an diesen Orten mutmaßlich besonders häufig expliziter Gewalt durch Freier ausgesetzt sind und oftmals durch Dritte in der Prostitution gehalten werden. Sie meinen in der Regel auch nicht die Frauen, die aufgrund der Prostitution mit dem Drogenkonsum angefangen haben und sich nun auch deswegen prostituieren müssen, um die Drogen finanzieren zu können. Auch die Frauen, die sexualisierte Gewalt in der Kindheit und Jugend erfahren haben und auch deswegen in die Prostitution gehen, werden vielfach unberücksichtigt gelassen. Oftmals definieren sex-work positive Feminist:innen Sex-Work auch nicht ausschließlich als full-service sex-work, sondern verstehen darunter auch andere Formen der Sex-Arbeit, wie z.B. Strippen oder Telefonsex.

Diese Ausgrenzungsbewegungen (*nicht* arme Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft im Großbordell; *nicht* Frauen mit vorangegangen sexuellen Traumatisierung; *nicht* die Frauen, die strafrechtlich relevante Gewalt durch Dritte erfahren etc.) und Ausdehnungsbewegungen (Sex-Work meint nicht nur Prostitution!) führen dazu, dass massives Gewalterleben von Frauen in den Hintergrund gerät. Nur so kann die Vorstellung einer Dominanz von vor dem Hintergrund kapitalistischer Zwänge (relativ) selbstbestimmter Arbeit und (relativer) Gewaltfreiheit in der Sex-Arbeit/Prostitution aufrechterhalten werden – eine Vorstellung, die von manchen, vielleicht den meisten sex-work positiven Feminist:innen vertreten wird, weil nur so die Idee aufrechterhalten werden kann, es handle sich bei Prostitution um einen weitestgehend ‚normalen Beruf‘. Eine solche Ausblendung ist aber in meinen Augen aus feministischer Perspektive grundlegend falsch. In meinem Verständnis sollte eine feministische Perspektive darauf drängen, in der Gesellschaft bestehendes unnötiges Leid von Frauen und anderen vulnerablen Personen zu minimieren – hierhin trifft sich der Feminismus mit anderen progressiven Bewegungen. Eine Grundvoraussetzung dafür ist es, dieses Leid systematisch in den Blick zu nehmen und diese Realitäten nicht mit dem Hinweis darauf, dass sie nicht in die Definition dessen fallen, was unter Sex-Arbeit verstanden wird, von sich fern zu halten. Daher müssen die grundsätzliche Potentialität und Realität massiver sexualisierter Gewalt in der Prostitution in Verbindung mit dem Umstand, dass die meisten prostituierten Frauen gar keine anderen (ökonomischen) Optionen für sich sehen, in einer feministischen Auseinandersetzung mit Prostitution zentral berücksichtigt werden. Die schematische Unterteilung in relativ selbstbestimmte Sex-Arbeit auf der einen und Zwangsprostitution auf der anderen Seite versperrt jedoch den Blick auf diesen Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und ökonomischer Not in der Prostitution.

Weiterhin unterschlägt eine solch vereinfachende Vorstellung, die zwischen Sex-Arbeit und Zwangsprostitution schematisch unterscheidet, den Umstand, dass die Prostitution nicht zufällig systematisch von Nötigung und Gewalt durch Dritte durchzogen ist. Diese Systematik ist auch Resultat dessen, dass Prostitution von etlichen Frauen nicht als ein normaler Job wahrgenommen wird. Vielmehr wird der Verkauf von Sex als solcher von zahlreichen Frauen als demütigend und degradierend empfunden. Zudem ist die Prostitution systematisch von Freiergewalt, die die artikulierten Grenzen dehnt und durchbricht und aus der (sexuellen) Demütigung von Frauen Lustgewinn zieht, durchzogen. Damit sich jedoch Bordellbetreiber, Zuhälter und Menschenhändler weiterhin an diesen Frauen, die sich aufgrund der immensen Gewalt nicht (mehr) prostituieren wollen, ganz legal in den Bordellen und Laufhäusern bereichern können, werden sie mit gewaltvollen Mitteln dazu genötigt, in der Prostitution zu bleiben. Eine feministische Perspektive auf Sex-Arbeit/Prostitution sollte daher Zwangsprostitution nicht als ein von der regulären Prostitution abgrenzbares Phänomen missverstehen, sondern diese vielmehr als regulären Operationsmodus innerhalb der Prostitution begreifen. Auch deswegen sollten sich Feminist:innen von einer Zweiteilung in relativ selbstbestimmte Sex-Arbeit vor dem Hintergrund kapitalistischer Zwänge auf der einen und Zwangsprostitution auf der anderen Seite verabschieden – weil diese schematische Zweiteilung die Potentialität und Realität von Freiergewalt in der Prostitution und die daraus resultierende Praxis, Frauen mit gewaltvollen und illegalen Mitteln in der Prostitution zu halten, unsichtbar macht und insgesamt dazu tendiert, brutale Wirklichkeiten auszublenden.

Exkurs: Freier sind Täter und das Nordische Modell

Im Nachfolgenden begründe ich, warum im Verhalten von Freiern die Missachtung der sexuellen Grenzen von Frauen systematisch eingeschrieben ist.[48]

Erstens verletzen Freier – bezugnehmend auf die Ausführungen aus dem Kapitel „Widersprüchliche Perspektiven auf den Verkauf von Sex“ – die sexuellen Grenzen von Frauen systematisch, da sie Sex mit Frauen gegen den Tausch von Geld haben, ohne ausschließen zu können, dass diese Frauen das Tauschverhältnis als solches als gewaltvoll erleben. Aus sex-work positiver Perspektive kann es sein, dass eine konkrete Sex-Arbeiterin kein Problem mit dem Tauschverhältnis hat. Es gibt unbestreitbar Stimmen von Sex-Arbeiter:innen, die dies bestätigen. Vielleicht erfüllt eine konkrete Sex-Worker:in ihre Tätigkeit sogar mit Sinn, weil sie annimmt, dass ihr Kunde, z.B. aufgrund seiner Arbeitsbelastung, in einen Zustand der sexuellen Bedürftigkeit geraten ist – und sie denkt, dass es schön ist, wenn diese sexuelle Bedürftigkeit durch sie behoben würde.[49] Auf der anderen Seite kann es jedoch auch sein, dass eine konkrete Frau das Tauschverhältnis als degradierend und gewaltvoll oder gar als einer Vergewaltigung ähnlich erlebt. Insbesondere in den gesellschaftlich dominierenden Bereichen der Prostitution, die von ökonomischer Perspektivlosigkeit durchtränkt sind, ist ein solches Erleben sehr wahrscheinlich. Unabhängig davon, in welchem Bereich der Kunde/Freier eine Sex-Arbeiter:in/prostituierte Frau aufsucht: Er kann nie anhand ihrer Reaktionen ablesen, zu welcher Personengruppe sie gehört. Sofern er kein dezidierter Sadist ist, hat er sich mit dem Sexkauf nämlich auch die Illusion von lustvollem Sex eingekauft, zu der die prostituierte Frau qua Tauschvertrag verpflichtet wird. Vor, während und nach dem Sex ist er also – sofern sichtbare Reaktionen des Ekels, der Angst etc. entsprechend des mündlichen Kaufvertrags ausgeblieben sind – gänzlich außerstande vor sich selbst Auskunft darüber zu geben, ob der Geschlechtsverkehr vom Gegenüber als ‚relativ normale Dienstleistung‘ erlebt wird/wurde oder ob die Situation nicht vielmehr als degradierend und gewaltvoll oder gar als einer Vergewaltigung ähnlich erlebt wird/wurde.

Dass Freier ein solches Verhalten mit sich selbst vereinbaren können, wird sicherlich auch durch die brutale Vorstellung eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper und/oder durch die nicht minder brutale Idee, dass prostituierte Frauen sexuell weniger vulnerabel seien als andere Frauen, befeuert. Denn auf psychologischer Ebene helfen beide Vorstellungen Freiern dabei, die Potentialität der von ihnen begangenen schweren Gewalt gegen Frauen im Prostitutionsgeschehen zu leugnen. Beide Vorstellungen helfen dabei, dass sich Männer im Prostitutionsgeschehen im Recht wähnen.[50] Besonders in neuerer Zeit, konkret seit der Legalisierung der Prostitution, stellt auch der Hinweis auf selbstbestimmte Sex-Worker:innen eine Möglichkeit der psychologischen Entlastung für Freier dar. So sind es insbesondere auch Männer, die sehr nachdrücklich auf die Existenz dieser Personengruppe pochen.[51] Die Existenz selbstbestimmter Sex-Worker:innen zu betonen, ermöglicht es Freiern, vor sich selbst und vor anderen die Potentialität des Umstands, dass eine konkrete Frau das Prostitutionsgeschehen als schwere Überschreitung ihrer sexuellen Grenzen wahrgenommen haben könnte, kleinzureden. Knapp 30% der Männer haben in Deutschland mindestens einmal für Sex bezahlt.[52] Entsprechend können knapp 30% der Männer in Deutschland nicht im Mindesten vor sich selbst Auskunft darüber geben, ob sie im Prostitutionsgeschehen Handlungen vollzogen haben, die vom Gegenüber als degradierend und gewaltvoll oder gar als einer Vergewaltigung ähnlich empfunden wurden. Dass rund jeder dritte Mann in Deutschland dieses Verhalten dennoch an den Tag legt, dass jeder dritte Mann also potentiell vergewaltigt, um die eigenen sexuellen Bedürfnisse befriedigt zu bekommen, ist aus feministisch-gesellschaftsanalytischer Perspektive hochgradig beunruhigend. Dieser Umstand verweist auf eine gesellschaftliche Dominanz eines hochgradig gewaltvollen männlichen Blicks auf (prostituierte) Frauen.

Zweitens verletzen sehr viele Freier – anknüpfend an die Ausführungen aus dem Kapitel „Verkauf von Sex in sexistischen Verhältnissen“ – die (sexuellen) Grenzen von Frauen in der Prostitution deswegen systematisch, weil viele von ihnen, wie oben ausführlich beschrieben, die explizit artikulierten Grenzen von Frauen im Prostitutionsgeschehen dehnen und missachten und Lust aus ihrer (sexuellen) Demütigung ziehen. Dieses Verhalten geht auf die spezifische sexistische Gewalt und Herrschaft außerhalb der Prostitution zurück – die brutale Vorstellung eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper, wie sie außerhalb der Prostitution gesellschaftlich dominant ist, wird im Prostitutionsgeschehen zusätzlich befeuert.

Drittens beteiligen sich Freier – bezugnehmend auf die Überlegungen aus dem Kapitel „Erzwungener Verkauf von Sex“ – am System von Menschenhandel/Zwangsprostitution, einem System, in dem die (sexuelle) Selbstbestimmung von Frauen systematisch und gravierend untergraben wird. Sie suchen in den legalen Bordellen und den legalen Laufhäusern und auf dem legalen Straßenstrich prostituierte Frauen auf, die durch Dritte systematisch in die Prostitution gedrängt bzw. dort gehalten werden. Im konkreten Prostitutionsgeschehen ist es den Freiern aufgrund des Kaufvertrags und des damit einhergehenden Kaufs der Illusion von Lust nicht möglich auszuschließen, dass sie Sex mit einer Frau, die zur Prostitution durch Dritte gewaltvoll gezwungen wird, haben.

Freier missachten also systematisch die sexuellen Grenzen und die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen in der Prostitution. Wie beschrieben, tun das alle Freier immer, wenn sie für Sex bezahlen. Daher muss eine grundlegende Problematisierung ihres Verhaltens fester Bestandteil feministischer Debatten bleiben. Das schließt auch die Möglichkeit der Kriminalisierung ihres Verhaltens ein.

Eine solche Kriminalisierung ist zentraler Aspekt des sogenannten Nordischen Modells. Dieser Begriff wird deswegen verwendet, weil eine umfassende Kriminalisierung von Freiern erstmalig in Schweden im Jahr 1999 rechtlich eingeführt worden ist. Neben einer Kriminalisierung des Sexkaufs sieht dieses Modell eine Entkriminalisierung von prostituierten Personen und ihre starke Unterstützung beim Ausstieg aus der Prostitution vor. Grundsätzliche Befürworter:innen des Nordischen Modells argumentieren, dass das Verhalten von Freiern aus den oben skizzierten feministischen Gründen verurteilt werden muss.[53] Weiterhin argumentieren sie, dass die Kriminalisierung des Sexkaufs zu einer Schwächung der Nachfrageseite und damit zu einem Rückgang von Straftaten im Bereich der (sexuellen) Selbstbestimmung führen würde. Für Zuhälter, Bordellbetreiber und Menschenhändler würde sich das Geschäft mit der sexuellen Ausbeutung von Frauen nicht mehr (im selben Ausmaß) lohnen, weil die Nachfrage durch Freier nachlassen würde. Weiterhin sehen Befürworter:innen des Nordischen Modells es als großen Vorteil an, dass Ausstiegshilfen für prostituierte Personen ausgebaut werden, die auch das Erleben, in der Prostitution gefangen zu sein, berücksichtigen. Diese sollen es insbesondere Personen ohne alternative ökonomische Perspektiven, traumatisierten oder drogenabhängigen Personen ermöglichen, mit gezielter Unterstützung einen Weg aus der Prostitution zu finden. Grundsätzliche Kritiker:innen sehen in der Kriminalisierung von Freiern eine Gefahr für (selbstbestimmte) Sex-Arbeiter:innen. Deren Tätigkeit würde durch die Kriminalisierung von Freiern in die Illegalität verbannt, was ihre Vulnerabilität erhöhen würde. Befürworter:innen des Nordischen Modells, z.B. Huschke Mau und Sandra Norak, entgegnen auf dieses Argument, dass schon jetzt, also in einer Situation der Legalität von Prostitution, weite Teile der Prostitution in Deutschland mit (organisierter) Kriminalität verflochten und von massiver Gewalt, psychischer und ökonomischer Not charakterisiert seien – ein Abdriften in noch schlimmere Zustände sei für die allermeisten prostituierten Frauen entsprechend kaum möglich, weil die Zustände bereits jetzt furchterregend seien. 

Ein umfassendes wissenschaftliches Review (Holmström und Skilbrei, 2017) zu den Konsequenzen des Nordischen Modells in Schweden, in dem systematisch alle bis dato existierenden Forschungsarbeiten zu dem Thema diskutiert werden, kommt zu dem Schluss, dass aktuell keine abschließende Beurteilung möglich sei. Weder der Rückgang von Zwangsprostitution, noch eine generell gestiegene Gefahr für (selbstbestimmte) Sex-Worker:innen könnten vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Datenmaterials für Schweden zweifelsfrei nachgewiesen werden. Die Datenlage ist einerseits nicht umfassend und andererseits ist es schwierig, aktuelle Phänomene kausal auf die Gesetzeslage zurückzuführen.[54] Die Autor:innen weisen auch darauf hin, dass der Begriff „Nordisches Modell“ irreführend sei, weil allein innerhalb Schwedens das Prostitutionsgesetz auf verschiedene Weise begründet, implementiert und erlebt wurde bzw. wird. Das „Nordische Modell“ ist also weniger eine in sich abgeschlossene, feste politische Praxis. Vielmehr besteht dieses Modell lediglich aus spezifischen Kernelementen, die z.B. um weitere Aspekte in der konkreten Implementierung erweitert werden können, um wünschenswerte Effekte zu fördern. Auch wenn ich die grundsätzlichen Probleme einer schwierigen Datenlage und der kausalen Rückführung von aktuellen Phänomenen auf veränderte Gesetze nachvollziehen kann, lassen die Autor:innen in ihrem Review einen Aspekt unberücksichtigt.

Während in Schweden seit der Einführung des Nordischen Modells ein Fall einer ermordeten prostituierten Frau bekannt geworden ist, sind es in Deutschland im gleichen Zeitraum über 100 Frauen aus der Prostitution gewesen, die ermordet wurden (Sporer, 2021).[55] Das sind über fünf Feminizide pro Jahr, rund alle zwei Monate eine ermordete Frau. In welchem Zusammenhang diese Morde zum gesellschaftlich dominierenden Prostitutionsgeschehen und zur Gesetzeslage in Deutschland stehen, ist nicht bis ins Letzte zu klären – auch weil Schweden in vielfältiger Hinsicht geschlechteregalitärer ist als Deutschland. Es ist jedoch sehr naheliegend, dass diese Morde die Spitze eines Eisbergs einer ungeheuren Gewalt gegen Frauen in der Prostitution in Deutschland darstellen – dass also in diesen Morden die massive Missachtung von Frauen, welche die Prostitution als Gewalt durch Freier und als Gewalt durch Dritte systematisch durchzieht, zu einem besonders gravierenden Ausdruck kommt. Auch ist es wahrscheinlich, dass diese Morde mit der Gesetzeslage in Deutschland, die Prostitution legalisiert und möglicherweise auch dadurch, gleichwohl nicht intendiert, Gewalt gegen Frauen durch Freier und durch Dritte befeuert, in einem direkten Zusammenhang stehen.

Zum Abschluss

Im Laufe dieser Broschüre habe ich dargelegt, dass dem Verkauf von Sex grundsätzlich die Potentialität massiven Gewalterlebens inhärent ist, da kein sexueller Konsens hergestellt wird. Zudem habe ich skizziert, dass die sexistische Realität eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper außerhalb der Prostitution systematisch zu gravierender sexualisierter Gewalt durch Freier in der Prostitution führt. Weil etliche Frauen also den Verkauf von Sex als solchen als degradierend und demütigend erleben und weil Freier systematisch die von Frauen in der Prostitution artikulierten (sexuellen) Grenzen dehnen oder durchbrechen und Lustgewinn aus ihrer (sexuellen) Demütigung ziehen, gibt es kaum Frauen, die in der Prostitution sein wollen – die allermeisten wollen ganz im Gegenteil die Prostitution verlassen. Neben den psychologischen Folgen von (sexualisierter) Gewalt halten sie jedoch ökonomische Perspektivlosigkeit und massive Gewalt durch Dritte (Zuhälter/Menschenhändler) in diesem gesellschaftlich dominierenden gewaltvollen Prostitutionssystem gefangen.

Zudem habe ich dargelegt, dass Freier prinzipiell die sexuellen Grenzen von Frauen in der Prostitution missachten. Aus normativ-feministischer Perspektive stellt nur ein lustvolles Ja ein tatsächliches Ja dar – jedem Zuwiderhandeln ist die Gefahr massiven sexualisierten Gewalterlebens inhärent. Basierend auf der Vorstellung eines männlichen Verfügungsrechts über den weiblichen Körper, der Vorstellung einer geringen (sexuellen) Vulnerabilität von Frauen in der Prostitution und/oder aufgrund des Verweises auf selbstbestimmte Sex-Worker:innen wähnen sich jedoch Freier als dazu berechtigt, die tatsächliche (sexuelle) Unlust von Frauen in der Prostitution zu missachten. Sie wähnen sich also im Recht, wenn sie sich über die feministische Grundüberzeugung „Nur ein lustvolles Ja ist ein tatsächliches Ja“ im Prostitutionsgeschehen hinwegsetzen. Entsprechend nehmen sie es in Kauf, Handlungen zu vollziehen, die als demütigend und degradierend oder gar als einer Vergewaltigung ähnlich erlebt werden. Daher sind diese Männer, gerade weil sie Freier sind, in Bezug auf ihre Vorstellungen darüber, was legitim ist, und in Bezug auf ihre Handlungen gravierende und gewalttätige Sexisten und Antifeministen. Zudem sind viele Freier darüber hinaus gewalttätig, weil viele von ihnen die artikulierten Grenzen dehnen und missachten und Lustgewinn aus der (sexuellen) Demütigung von Frauen in der Prostitution ziehen, und sie verhalten sich hochgradig schuldhaft, weil sie in einem System, das von Zwangsprostitution durchtränkt ist, Prostituierte aufsuchen, von denen sie nicht ausschließen können, dass sie zur Prostitution durch Dritte gezwungen werden. Dadurch profitieren sie von der Zwangsprostitution und tragen aktiv zu ihrer Aufrechterhaltung bei.

Weiterhin habe ich dargestellt, dass die Potentialität und Realität (sexualisierter) Gewalt in der Prostitution sexistische Gewalt und Herrschaft außerhalb der Prostitution befeuern könnte – weil das Prostitutionsgeschehen das tradierte männliche Verfügungsrecht über den weiblichen Körper zementiert.

Folgt man dieser Analyse, dann ist weder Prostitution im Allgemeinen noch das aktuelle gesellschaftlich dominierende Prostitutionssystem in Deutschland aus feministischer Perspektive hinnehmbar. Eine feministische Perspektive muss folglich darauf drängen, dieses System abzuschaffen. Eine Kriminalisierung von Freiern, die Entkriminalisierung und Entstigmatisierung von prostituierten Personen und der massive Ausbau von Ausstiegshilfen aus der Prostitution scheinen mir gegenwärtig hierfür der vielversprechendste Weg zu sein.

Alternative feministische Vorschläge aus sex-work positiver Perspektive müssen in meinen Augen maßgeblich darauf zielen, die Lebenssituation der Mehrheit fremdbestimmter prostituierter Frauen im Hier und Heute zu verbessern. Die sex-work positive Forderung nach einer Stärkung der Rechte von Sex-Worker:innen geht hieran vorbei. Denn keiner Frau, die ihre Situation als sexualisiert gewaltvoll erlebt, ist grundlegend damit geholfen, wenn sie sich nicht mehr zur Gesundheitsberatung einfinden muss, wenn sie (etwas) mehr verdient als bislang oder kürzer ‚arbeitet‘. Im Gegenteil: Die Forderung nach einer Verbesserung der ‚Arbeitsbedingungen‘ in Verbindung mit der Vorstellung, Prostitution sei ein normaler Beruf, nivelliert das Gewalterleben von prostituierten Frauen im Verkauf von Sex als solchem und die männliche Gewalt in der Prostitution. Auch die sex-work positive Forderung nach einer Entstigmatisierung von prostituierten Personen wird keine durchschlagenden positiven Folgen haben, solange die Prostitution weiterexistiert. Denn die Stigmatisierung von prostituierten Frauen geht ganz maßgeblich von Freiern aus. Weil sie die grundsätzliche Potentialität und Realität der Gewalt, die sie gegen prostituierte Frauen anwenden, kleinreden wollen, sind sie als gesellschaftliche Gruppe darauf angewiesen, dass das ‚Hurenstigma‘ aufrechterhalten bleibt. Für sie ist es dienlich, wenn sie vor sich selbst und vor anderen kundtun können, prostituierte Frauen seien weniger wert oder weniger sexuell vulnerabel als andere Frauen und gerade deswegen sei es legitim, ihnen gegenüber potentiell und real gewalttätig zu werden. Alternativ oder ergänzend können Freier auf eine allgemeine Abwertung von Frauen zur Relativierung der Potentialität und Realität der von ihnen ausgeübten Gewalt zurückgreifen. Solange es Freier gibt, wird also die Stigmatisierung von (prostituierten) Frauen weiterexistieren. In meinen Augen ist daher völlig unstrittig, dass aus feministischer Perspektive intensive und umfängliche Ausstiegshilfen geschaffen werden müssen – Ausstiegshilfen, die auch das sexualisierte Gewalterleben und die Erfahrung, in der Prostitution gefangen zu sein, maßgeblich berücksichtigen.

Einige sex-work positive Feminist:innen unterstützen Ausstiegshilfen durchaus. Sofern jedoch Ausstiegshilfen die einzige Komponente beim Kampf gegen das gesellschaftlich dominierende Prostitutionssystem sind, muss bedacht werden, dass sie einen gewaltvollen Kreislauf in die Wege leiten. Sie bieten zwar für diejenigen Frauen, die aktuell in der Prostitution sind, Unterstützung. Jedoch werden andere Frauen auch durch Dritte genötigt, ihren Platz einzunehmen, solange das gesellschaftlich dominierende Prostitutionssystem weiterexistiert. Vielleicht auch um einem solchen Kreislauf entgegenzuwirken, plädieren manche sex-work positive Feminist:innen für ein gemeinsames Engagement gegen Armut. Das ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, jedoch werden solche Bemühungen wohl kaum zügig Wirkung entfalten – sofern sie je Früchte tragen sollten. Seit Jahrzehnten sind keine progressiven Entwicklungen in Bezug auf die (globale) Verteilung von Reichtum und Armut zu verzeichnen, auch weil eine starke linke Bewegung fehlt. Die aktuell grauenvolle Situation in Deutschland, die mit kaum einem anderen europäischen Land zu vergleichen ist, erfordert jedoch aus feministischer Perspektive zeitnahe Veränderungen. Entsprechend scheinen mir die Vorschläge aus sex-work positiver Perspektive, die mir bekannt sind, unzureichend, um das gesellschaftlich dominierende Prostitutionssystem in Deutschland in absehbarer Zeit einzudämmen. Folglich wäre es sinnvoll, wenn die Kernkomponenten des Nordischen Modells und damit auch eine Kriminalisierung von Freiern von Feminist:innen, die sex-work positiven Positionen zuneigen, nicht kategorial ausgeschlossen würden – sondern erst dann, wenn die Realität massiver (sexualisierter) Gewalt in der Prostitution zur Kenntnis genommen worden ist und aus sex-work positiver Perspektive tragfähigere Vorschläge, die maßgeblich auf die Eindämmung des menschenverachtenden gesellschaftlich dominierenden Systems der Prostitution zielen, entwickelt worden sind.

Obwohl ich prinzipiell dagegen bin, Fronten zwischen sex-work positiven und prostitutionskritischen Feminist:innen zu verhärten und vielmehr einen offenen und angstfreien Austausch befürworte, beende ich die Broschüre dennoch mit einer grundlegenden Problematisierung sex-work positiver Positionen. Dabei beziehe ich mich explizit auf die extremsten Ausformungen sex-work positiver Argumente, um das antifeministische Fahrwasser innerhalb dieser politischen Ausrichtung sichtbar zu machen. Dezidiert schließe ich in die folgende Kritik sex-work positive Feminist:innen, die versuchen, Widersprüche innerhalb der Sex-Arbeit/Prostitution mitzudenken, nicht mit ein. Vielmehr würde es mich freuen, wenn diese Personen vielleicht auch vor dem Hintergrund der folgenden Überlegungen andere Personen auf antifeministische Tendenzen in ihrer Argumentation hinweisen. Denn in den extremsten Ausformungen der sex-work positiven Haltung werden grundlegende feministische Einsichten in ihr absolutes Gegenteil verkehrt, weswegen Interventionen in die feministische Bewegung notwendig sind.

In den extremsten Ausformungen eines sex-work positiven Feminismus gelten nur die Stimmen von (relativ) selbstbestimmten Sex-Worker:innen, die Sex-Arbeit als eine normale Arbeit erleben, als legitim, wohingegen die Stimmen von Frauen aus der Prostitution, die den Verkauf von Sex als solchen als gewaltvoll charakterisieren, als illegitim abgekanzelt werden. Letztere werden teils von sex-work positiven Personen mit Verleumdungen oder mit Belehrungen darüber, wie sie den Verkauf von Sex als solchen wahrnehmen sollten, bedacht.[56] Dieses Agieren läuft zwei feministischen Grundüberzeugungen zuwider: Erstens der feministischen Überzeugung, dass wir als Feminist:innen Personen, die von sexualisiertem Gewalterleben berichten, Glauben schenken sollten. Es ist zutiefst antifeministisch, Frauen und andere vulnerable Personen, die davon berichten, dass sie sexuelle Situationen als gewaltvoll erleben/erlebt haben, darüber zu belehren, dass dies nicht der Fall sein könne – hier ist es unerheblich, ob es sich dabei um Situationen in oder außerhalb der Prostitution handelt. Zweitens untergräbt die Relativierung des Gewalterlebens eine feministische Grundüberzeugung für den Bereich von Sexualität außerhalb der Prostitution – dass nämlich nur ein lustvolles Ja ein tatsächliches Ja ist. Prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution, die von ihrem Gewalterleben im Verkauf von Sex als solchem berichten, tun nichts anderes, als darauf hinzuweisen, dass sie so empfinden, wie wir es als Feminist:innen für Personen außerhalb der Prostitution als ‚legitim‘ oder ‚nachvollziehbar‘ erachten. Sie beschreiben, dass sie das Fehlen eines lustvollen Ja in der Sexualität, also das Fehlen von sexuellem Konsens, als gewaltvoll erleben/erlebt haben – auch innerhalb der Prostitution. Es ist legitim zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht alle Sex-Worker:innen dieses Empfinden teilen. Nicht hinnehmbar ist es allerdings, wenn Frauen aus der Prostitution die von ihnen erlebte Realität abgesprochen wird – auch weil ein Absprechen den soeben benannten zentralen feministischen Grundüberzeugungen zuwiderläuft.

Ebenso werden in den extremsten Ausformungen des sex-work positiven Feminismus nur jene Sex-Worker:innen, die bislang keine massive Gewalt durch Freier, in der explizit gesetzte Grenzen gedehnt oder gebrochen wurden, erlebt haben, zur Kenntnis genommen, wohingegen Stimmen von Frauen aus der Prostitution, die von massivem Gewalthandeln durch Freier berichten, nicht systematisch gewürdigt werden. Weil feministische Auseinandersetzungen zu erheblichen Teilen auch über Social-Media-Kanäle verlaufen, verweise ich in diesem Zusammenhang auf den Instagram-Account von „der_hase_im_pfeffer“ (rund 20.000 Follower:innen). Dieser empfiehlt regelmäßig den Instagram-Account der sex-work positiven Sex-Arbeiterin „6arbeiterin“. Diese beschreibt, dass sie noch nie Gewalt durch ihre Kunden erlebt habe – und generalisiert implizit auf die Gesamtgruppe von Freiern. Hingegen wurden von dem Account „der_hase_im_pfeffer“ – soweit mir bis zum Druck dieser Broschüre bekannt – nie Berichte über Gewalt von Frauen aus der Prostitution explizit gewürdigt. Dieses Agieren läuft der feministischen Grundüberzeugung zuwider, dass in der Gesellschaft bestehendes (sexualisiertes) Gewalterleben von Frauen und anderen sexuell vulnerablen Personen sichtbar gemacht werden muss. Es ist legitim, zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht alle Sex-Worker:innen explizite Gewalt, in der artikulierte Grenzen gedehnt oder durchbrochen worden sind, durch Freier erfahren haben. Eine einseitige Akzentuierung dieser Stimmen ist jedoch aus feministischer Perspektive bei der Auseinandersetzung mit Sex-Work/Prostitution hochgradig problematisch, weil dadurch Gewalt und Herrschaft im Geschlechterverhältnis ausgeblendet werden. Besonders irritierend ist diese Ausblendung auch deswegen, weil einige Aktivistinnen aus der Prostitution von massiver Gewalt durch Freier über Social-Media-Kanäle berichten. Der Zugang zu diesen Informationen ist also nicht mit großen Hürden behaftet.  

Weiterhin kommen in den extremsten Ausformungen des sex-work positiven Feminismus nur Personen zu Wort, die sich in den relativ selbstbestimmten Bereichen von Sex-Work bewegen, und nicht diejenigen prostitutionskritischen Aktivistinnen, die Einblicke in und Analysen zu den gesellschaftlich dominierenden Bereichen der Prostitution mit einer breiten Öffentlichkeit teilen. In diesen Bereichen prostituieren sich hauptsächlich arme Frauen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Diese einseitige Würdigung läuft einer feministisch-intersektionalen Grundüberzeugung zuwider. Dieser Überzeugung entsprechend sollte insbesondere die Situation von Frauen und anderen vulnerablen Personen, denen auch aufgrund von Armut, Rassismus oder einer fehlenden deutschen Staatsbürgerschaft besondere geschlechtsspezifische Verletzungen und Gewalt widerfahren, berücksichtigt werden. Während vielen Feminist:innen ein herkunftsdeutscher Feminismus der (oberen) Mittelschicht aus guten Gründen nicht als feministischer Masterplan erscheint, beschränkt sich die Auseinandersetzung mit Sex-Work in der extremsten Ausformung eines sex-work positiven Feminismus mit eben jener Personengruppe von herkunftsdeutschen und ökonomisch vergleichsweise privilegierten Sex-Arbeiter:innen mit hohen Bildungsabschlüssen. In extremsten Fall wird ersteren zugejubelt, während Aktivistinnen aus den gesellschaftlich am stärksten verbreiteten Bereichen der Prostitution diffamiert werden.[57]

In dieser extremen Ausformung ist der sex-work positive Aktivismus daher eine politische Haltung, die in einem Feld, das insgesamt von Vulnerabilität charakterisiert ist, die Verletzbarsten unsichtbar macht. Frauen, die den Verkauf von Sex als solchen als gewaltvoll erleben, die massive Gewalt in der Prostitution erfahren haben und die ihre Erfahrungen in bzw. ihre Analyse zu den gesellschaftlich dominierenden Prostitutionsbereichen teilen, werden ausgeschlossen oder gar mit Belehrungen, Diffamierungen und Anfeindungen überzogen. In dieser extremen Form ist die sex-work positive Haltung nicht feministisch; denn sie verkehrt feministische Grundüberzeugungen in ihr Gegenteil. Es handelt sich bei dieser extremen Form vielmehr um eine Politik für eine privilegierte Minderheit – eine explizite Politik für diejenigen, die es bislang aufgrund von gesellschaftlich bedingten Vorteilen oder dank purem Glück geschafft haben, in einem System, dem die Potentialität massiver Gewalt gegen Frauen eingeschrieben ist und in dem sehr viele/die meisten/fast alle Frauen sexualisierte Gewalt erleben, den Kopf über Wasser zu halten. Es handelt sich also bei dieser extremen Ausformung um eine politische Haltung, in der die relativ Starken mit Wohlwollen, die Vulnerabelsten hingegen mit Anfeindungen bedacht werden.

Diese Aktivist:innen, die extreme Ausformungen sex-work positiver Positionen einnehmen, sprechen zwar ihrem Selbstverständnis nach für Sex-Arbeiter:innen, ihre Haltung kann sich jedoch, gleichwohl nicht intendiert, gegen Frauen in und außerhalb der Prostitution wenden. Im Zusammenspiel mit der aufgrund der Legalisierung gesellschaftlich etablierten Vorstellung, Prostitution sei ein normaler Beruf, und aufgrund der Tatsache, dass die Prostitution sowohl für Bordellbetreiber, Zuhälter und Menschenhändler als auch für den deutschen Staat aufgrund von Steuereinnahmen eine Einkommensquelle bietet, kann diese extreme Ausformung politische Konsequenzen nach sich ziehen. Für Frauen in der Prostitution befeuert diese Argumentation den Abbau von Ausstiegshilfen, die das Erleben, in der Prostitution gefangen zu sein, aufgreifen. Fälschlicherweise wird hier nämlich die Vorstellung genährt, dass prostituierte Frauen sich doch ‚einfach einen neuen Job suchen können, wenn es ihnen in der Prostitution nicht gefällt‘. Dass Frauen nach jahrelangem sexualisiertem Gewalterleben und den daraus resultierenden immensen inneren Verwüstungen, ohne alternative ökonomische Perspektiven und basierend auf Bedrohungen und Gewalt durch Dritte nicht ‚einfach so‘ gehen können, wird in dieser Vorstellungswelt verkannt. Weiterhin werden prostituierte Frauen bereits jetzt in Deutschland durch Mitarbeiter:innen von Arbeitsämtern dazu gedrängt, im Rotlichtmilieu zu bleiben (vgl. Mau, 2022) – das Agieren der Ämter steht dabei ganz im Einklang mit der Vorstellung, Sex-Arbeit sei ein Beruf wie jeder andere auch und gehe nicht mit (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen durch Freier oder durch Dritte einher. Aber auch für Frauen außerhalb der Prostitution hat diese Argumentation potentiell Folgen. Immer wieder wurden Fälle bekannt, in denen erwerbslose Frauen außerhalb der Prostitution durch Mitarbeiter:innen von Arbeitsämtern in das Rotlichtmilieu gedrängt werden sollten – teils auch sehr junge Frauen im Alter von 19 Jahren.[58] Auch wenn die Ämter in den bekannt gewordenen Fällen bislang aufgrund von politischem Druck zurückrudern mussten, ist nicht auszuschließen, dass sich die Haltung, Sex-Arbeit sei ein ganz normaler Beruf ohne Potentialität und Realität (sexualisierter) Gewalt, irgendwann ganz legal gegen erwerbslose Frauen wenden wird. Denn es ist folgerichtig, dass ein ganz normaler Beruf allen erwerbslosen Menschen zugemutet werden kann. Weil die Prostitution um die Befriedigung männlicher sexueller Bedürfnisse am Körper von Frauen zentriert ist, sind es jedoch erwerbslose Frauen, die der Gefahr, (zukünftig) ins Prostitutionssystem gedrängt zu werden, ausgesetzt sind.

Nicht zuletzt sollten sich die Aktivist:innen, die extreme Ausformungen einer sex-work positiven Haltung einnehmen, ganz grundlegend mit der Frage auseinandersetzen, ob sie Positionen propagieren wollen, die von (explizit gewalttätigen) Freiern, Bordellbetreibern, Zuhältern und Menschenhändlern, also auch von der organisierten Kriminalität rund um Rockerbanden, mutmaßlich mit großem Wohlwollen zur Kenntnis genommen werden. Die fundamentale Negierung der Potentialität und Realität (sexualisierten) Gewalterlebens in der Prostitution, wie sie von diesen Aktivist:innen betrieben wird, spielt vor dem Hintergrund des gesellschaftlich dominierenden Prostitutionssystems de facto jenen Gruppen in die Hände, die sich schon jetzt mit legalen und illegalen Mitteln an dem Geschäft mit der Sexualität bzw. dem Körper von Frauen bereichern. Die Aktivist:innen liefern Slogans, die vom dominierenden Prostitutionsgewerbe für sich nutzbar gemacht werden könnten, ohne dass sich die Realität der Prostitution ändert – denn eine gesellschaftsanalytische und genuin feministische Perspektive auf das Prostitutionssystem fehlt in der extremsten Haltung sex-work positiver Aktivist:innen vollkommen. Anders ausgedrückt: Großbordelle könnten irgendwann mit dem Slogan ‚Sex-Work is Care-Work‘ für sich werben, während sich die Frauen an diesen Orten weiterhin unter immenser legaler und illegaler Gewalt, die von Freiern, Zuhältern und Menschenhändlern ausgeht, prostituieren müssen. Eine solche feministische Dystopie würde (sexualisierte) Gewalt gegen prostituierte Frauen nicht nur leugnen, sondern würde sie auf symbolischer Ebene in ihr Gegenteil verkehren. Statt Perspektiven auf ein Ende von (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen in der Prostitution zu eröffnen, hätten diese Aktivist:innen dazu beigetragen, dass prostituierten Frauen mit massiven Gewalterfahrungen vermittelt würde, sie würden gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten oder ‚ganz viel Liebe geben‘. Von victim blaming hätte sich die gesellschaftliche Deutung im Feld der Prostitution zu gaslighting entwickelt.

Auch diese Aktivist:innen, die extreme Positionen im sex-work positiven Bereich einnehmen, nutzen den Begriff SWERF zur Diskreditierung abweichender Positionen. Sie gehen dabei sogar so weit, Organisationen von Frauen aus der Prostitution als SWERF-Organisationen zu diskreditieren. Die Absurdität könnte nicht größer sein, weil diese Aktivist:innen, die oftmals selbst nicht aus der Prostitution sind, Frauen aus der Prostitution vorwerfen, Sex-Arbeiter:innen auszuschließen. Weil der Begriff SWERF also auch zur Absicherung der oben skizzierten extremen Haltung in Kampfstellung zu Frauen aus den gesellschaftlich dominierenden Bereichen der Prostitution genutzt wird, sollte die Verwendung des Akronyms in feministischen Kontexten grundlegend überdacht werden. Zudem werden prostitutionskritische Feminist:innen mit diesem Begriff mitunter auf menschenverachtende Weise angegriffen. Auf einer Demonstration zum feministischen Kampftag 2022 wurde in Oslo ein Transparent ausgerollt, auf dem abgebildet war, wie eine Feminist:in einer anderen Person den Kopf mit einer Pistole wegschießt. Gut erkennbar ist auf dem Transparent, wie von dem Kopf nur ein blutiger Klumpen übrigbleibt. Das Transparent teilt mit, dass es sich bei der erschossenen Frau um eine SWERF handelt. Einige Personen sehen es also als legitim an, Feminist:innen, die prostitutionskritische Positionen vertreten, mit dem Tod zu bedrohen – also auch Frauen aus der Prostitution, die prostitutionskritische Haltungen einnehmen. Auf deutschsprachigen feministischen Seiten werden SWERFs in einer Aufzählung mit Antisemit:innen und Rassist:innen genannt. Bei dieser Reihung wird verkannt, worauf die jeweiligen Personengruppen zielen. Während Antisemit:innen und Rassist:innen in letzter Konsequenz auf Mord und Vernichtung ausgerichtet sind, drängen Prostitutionskritiker:innen darauf, Gewalt gegen Frauen und gegen andere vulnerable Personen einzudämmen. Wie stark die Interessen von (relativ) selbstbestimmten Sex-Worker:innen bei konkreten politischen Forderungen berücksichtigt werden sollten, ist streitbar. Es ist jedoch der Realität enthoben, nahezulegen, dass der Antrieb von Prostitutionskritiker:innen Menschenverachtung und Hass sei. Die Motivation ist vielmehr eine genuin feministische Zugewandtheit all jenen gegenüber, die (sexualisierte) Gewalt erfahren, und sie strebt auf ein Ende dieser Gewalt. Abschließend wäre es auch deswegen gut, wenn der Begriff SWERF auf dem Müllhaufen der feministischen Bewegungsgeschichte landet, weil seine Verwendung Angst unter Feminist:innen schürt. Denn keine Feminist:in kann angstfrei Fragen stellen oder eigene Überlegungen artikulieren, wenn das mit der Gefahr belegt ist, in eine Reihe mit Antisemit:innen und Rassist:innen gestellt zu werden oder andere Formen der Ausschlüsse und massive Anfeindungen zu erfahren. Statt auf solche Diskreditierungen und Anfeindungen unter dem SWERF-Vorwurf zu setzen, sollten wir als Feminist:innen einen respektvollen, offenen und angstfreien Austausch anstreben, der darauf orientiert ist, (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen und andere vulnerable Personen zu bekämpfen – in und außerhalb der Prostitution.

Leseempfehlung:

Huschke, Mau. 2022. Entmenschlicht. Warum wir Prostitution abschaffen müssen. Hamburg.

Literatur:

BMFSFJ. 2005a. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Teilpopulation 2 – Prostituierte.

BMFSFJ. 2005b. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Hauptstudie.

Bolm-Audorff, Ulrich, Gabriela Petereit-Haack und Andreas Seidler. 2019. Zusammenhang zwischen beruflichen Traumata, posttraumatischer Belastungsstörung und Depression – eine Beurteilung von systematischen Reviews. Psychiatrische Praxis. 46. 184-190.

Brunner, Franziska, Safiye Tozdan, Verena Klein, Arne Dekker und Peer Briken. 2021 Lebenszeitprävalenz des Erlebens von Sex und sexueller Berührung gegen den eigenen Willen sowie Zusammenhänge mit gesundheitsbezogenen Faktoren. Bundesgesundheitsblatt. 64. 1339-1354.

Cho, Seo-Young, Alex Dreher und Eric Neumayer. 2013. Does Legalized Prostitution Increase Human Trafficking? World Development. 41. 67-82.

Döring, Nicola, Roberto Walter, Catherine H Mercer, Christian Wiessner, Silja Matthiesen und Peer Briken. 2022. Men Who Pay for Sex: Prevalence and Sexual Health-Results from the German Health and Sexuality Survey (GeSiD). Deutsches Ärzteblatt International. Online First.

Farley, Melissa, Isin Baral, Mereb Kiremire und Ufuk Sezgin. 1998. Prostitution in Five Countries. Violence and Post-Traumatic Stress Disorder. Feminism & Psychology. 8. 405–426.

Federici, Silvia. 2020. Jenseits unserer Haut. Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus. Unrast-Verlag.

Holmström, Charlotta und Mey-Len Skilbrei. 2017. The Swedish Sex Purchase Act: Where Does it Stand? Oslo Law Review. 4. 82-104.

Möller, Anna, Hans Peter Söndergaard und Lotti Helström. 2017. Tonic Immobility During Sexual Assault – a Common Reaction Predicting Post-Traumatic Stress Disorder and Severe Depression. Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica. 96. 932-938.

Sporer, Helmut. 2021. Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen am 14.Januar 2021.

Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, Posttraumatischer Belastungsstörungen und Dissoziation bei Prostituierten. Eine explorative Studie. Hamburg.


[1] Bei dem Begriff ‚sex-work positiv‘ handelt es sich um eine Wortneuschöpfung zur Benennung eines argumentativen Strangs im Feminismus. Die Bezeichnungen ‚sex-work positive‘ und ‚prostitutionskritische‘ Feminist:innen werden hier zur Benennung argumentativer Tendenzen verwendet. Selbstverständlich variieren innerhalb der jeweiligen Gruppen die Haltungen und Argumente.

[2] Vgl. Döring, Walter, Mercer, Wiessner, Matthiesen und Briken (2022)

[3] Mit dem Begriff der Vulnerabilität werden nicht biologische Eigenschaften benannt, sondern gesellschaftliche Verhältnisse, die dazu führen, dass gegen spezifische Personengruppen gehäuft (sexualisierte) Gewalt ausgeübt wird.

[4] Die Abkürzung SWERF steht für ‚Sex Workers Exclusionary Radical Feminists‘, wobei der weitere Inhalt nicht einheitlich definiert ist. Manche Personen verstehen darunter lediglich, dass Feminist:innen „Sex-Arbeiter:innen ausschließen“, ohne klarer zu benennen, was genau unter einem Ausschluss verstanden wird. Sehr häufig werden unter diesem Begriff auch konkrete prostitutionskritische Positionen verhandelt. So ergänzten die Organisator:innen der Demonstration zum feministischen Kampftag in Kassel 2022 diese Definition um die Formulierung, dass es sich dabei um Feminist:innen handle, die „Sex-Arbeit bzw. je nach Auslegung die Kund_innen von Sex-Arbeiter_innen kriminalisieren“ wollen. Andere Personen verstehen darunter Feminist:innen, die Sex-Work/Prostitution als antifeministisch einordnen. Auf dem Instagram Account „der_hase_im_pfeffer“ (rund 20.000 Follower:innen) werden regelmäßig Organisationen, in denen Frauen aus der Prostitution organisiert sind, die Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution unterstützen bzw. Prostitution grundlegend kritisieren (z.B. Sisters e.V. und das Netzwerk Ella), als „SWERF-Organisationen“ bezeichnet. Soweit bekannt, wird dieser Account „der_hase_im_pfeffer“ von einer Person betrieben, die selbst nie in der Sex-Arbeit/Prostitution war.

[5] Zu diesen Stimmen gehören im deutschen Kontext z.B. Huschke Mau, Daria Ivanovicova und Sandra Norak.

[6] Ich benutze hier eine Sprache, die prostituierte Frauen während des Geschlechtsverkehrs ins Passive setzt, um widerzuspiegeln, dass die Prostitution um die Bedürfnisse des Freiers zentriert ist. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der Freier von der prostituierten Frau die Illusion von Dominanz einfordert (vgl. Mau, 2022).

[7] Diese Analogie ist entnommen aus Mau (2022).

[8] Prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution weisen darauf hin, dass sich ihrer Erfahrung nach die allermeisten Frauen in der Prostitution in einer solchen Situation befinden: Sie erleben die Prostitution nicht als eine Option unter vielen, sondern sehen für sich keine andere Möglichkeit, um sich ökonomisch zu reproduzieren. Vor diesem Hintergrund fehlender Alternativen ist daher die Vorstellung von Freiwilligkeit auch dann zu problematisieren, wenn kein direkter Zwang durch andere Personen vorliegt (z.B. Mau, 2022). Mit der Frage massiver ökonomischer Not und Perspektivlosigkeit innerhalb der Prostitution beschäftigt sich das letzte Kapitel dieser Broschüre ausführlich.

[9] So gaben etwa in einer empirischen Studie unter Frauen, die vergewaltigt worden sind, 70% der Befragten an, dass sie während der Vergewaltigung paralysiert gewesen seien und sich gar nicht/kaum bewegen konnten (Möller, Söndergaard und Helström, 2017).

[10] Siehe beispielsweise die Social-Media-Präsenz von Daria Ivanovicova und von Huschke Mau (besonders: https://www.facebook.com/huschkemau/photos/a.1882583408678081/2916411665295245/).

[11] Siehe beispielsweise hier: https://www.spiegel.de/panorama/gegen-metoo-franzoesinnen-wehren-sich-mit-einem-offenen-brief-gegen-metoo-a-00000000-0003-0001-0000-000002003079

[12] Wie bereits angedeutet, sind die Positionen innerhalb des sex-work positiven Feminismus vielfältig. Es gibt auch sex-work positive Feminist:innen, die versuchen, Widersprüche innerhalb von Sex-Arbeit/Prostitution mitzudenken. Einige sex-work positive Aktivist:innen, wie z.B. der Instagram Account „der_hase_im_pfeffer“, unterscheiden jedoch vereinfachend zwischen ‚Sex-Arbeit‘ auf der einen und ‚Zwangsprostitution‘ auf der anderen Seite und begreifen Sex-Arbeit als solche als normale Arbeit im Kapitalismus. Eine solche Haltung ist jedoch nur möglich, wenn die Stimmen von Frauen aus der Prostitution, die den Verkauf von Sex als solchen als gewaltvoll beschreiben, gänzlich ausgeblendet werden (siehe ausführlicher nachfolgender Exkurs „Verkauf von Sex als normale Arbeit im Kapitalismus“).

[13] Vgl. z.B. Mau (2022)

[14] So haben Feuerwehrleute und Rettungssanitäter:innen ein erhöhtes berufsbezogenes Risiko für eine Posttraumatische Belastungsstörung (vgl. Bolm-Audorff, Petereit-Haack und Seidler, 2019).

[15] Natürlich gibt es auch außerhalb der Prostitution ganz furchtbare Jobs bzw. furchtbare Arbeitsbedingungen. Besonders in bestimmten Branchen (z.B. Landwirtschaft, Schlachterei) sind ausbeuterische Arbeitsbedingungen (z.B. sehr niedrige Löhne, sehr hohe Arbeitszeiten, keine ausreichenden Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, keine Absicherung im Krankheitsfall) keine Seltenheit und teilweise werden diese Arbeitsverhältnisse auch in Europa mittels direktem Zwang (z.B. vermeintliche Schulden, einbehaltene Pässe) aufrechterhalten, so dass Charakteristiken der Zwangsarbeit vorliegen.

Wird jedoch die Perspektive weg von den Kerntätigkeiten und hin zu den Arbeitsbedingungen und dem Zwang durch Dritte verlagert, muss im Bereich der Prostitution das Augenmerk auf Ausbeutung (Arbeitsbedingungen) und Zwangsprostitution (Zwang durch Dritte) gelegt werden. Unter illegalen Zwangsverhältnissen bei miserablen Arbeitsbedingungen Tiere zerlegen oder Spargel stechen zu müssen, bleibt dann etwas ganz Anderes, als sich unter illegalen Zwangsverhältnissen (z.B. vermeintliche Schulden, einbehaltene Pässe, Androhung von Gewalt, tatsächliche körperliche und/oder sexualisierte Gewalt durch Zuhälter/Menschenhändler) im Großbordell unter ausbeuterischen Bedingungen (z.B. keine Freier abweisen können; alle sexuellen Handlungen anbieten müssen; kein Kondom nutzen dürfen; viele Freier bedienen müssen; lange Arbeitszeiten bei niedrigem Verdienst; kein Schutz vor expliziter Gewalt durch Freier) prostituieren zu müssen. Es ist etwas Anderes, weil dazu gezwungen zu werden, Sex ohne sexuellen Konsens unter schlimmsten Bedingungen zu haben, geradezu notwendig sexualisiertes Gewalterleben und sexuelle Traumatisierung impliziert, was bei anderen Tätigkeiten nicht gegeben ist. Mit verschiedenen Formen des Zwangs in der Prostitution beschäftigt sich das letzte Kapitel der Broschüre. 

[16] Nicht alle sex-work positiven Feminist:innen pochen darauf, dass Sex-Arbeit eine *gänzlich* normale Arbeit im Kapitalismus sei. Es gibt auch sex-work positive Stimmen, die die Position vertreten, Sex-Arbeit sei zwar durchaus eine ‚normale Arbeit im Kapitalismus‘, jedoch betonen sie zugleich die spezifische Vulnerabilität von Frauen und von anderen Personen in der Sex-Arbeit – um Widersprüche sichtbar zu machen. Manche Äußerungen aus sex-work positiver Richtung lesen sich jedoch tatsächlich so, als wäre diesen Personen die Potentialität von sexualisiertem Gewalterleben im Sex-Verkauf als solchem und daher ein zentraler Unterschied zwischen der Prostitution und anderen Tätigkeiten nicht bewusst. So schrieb etwa eine Person zur Diskussion um den Ausschluss von SWERFs vom feministischen Kampftag 2022 in Kassel folgendes auf instagram: „das ist das Problem des gesamten kapitalistischen Systems mit generell ausbeuterischem Arbeitszwang […]. Solange es noch Arbeitszwang gibt, wird es auch weiter 6Arbeit geben müssen (klar auch sehr sehr sehr viel unfreiwillig. Die meisten Menschen sind dazu gezwungen irgend welche ausbeuterischen scheiß Jobs zu machen, um zu überleben. Siehst Du das nicht insgesamt kritisch?“ In diesem Statement wird die grundsätzliche Potentialität von sexualisiertem Gewalterleben in der Prostitution ausgeblendet, die den zentralen Unterschied zwischen Prostitution und anderen ‚ausbeuterischen scheiß Jobs‘ ausmacht.

[17] Leider ist dieser vielleicht absurd anmutende Vergleich zwischen ‚Tätigkeiten‘ nicht aus der Luft gegriffen. So schreibt Silvia Federici, eine der aktuell wohl prominentesten Feministinnen weltweit, folgendes: „Es sollte auch angemerkt werden, dass es entwürdigendere Arten der Erwerbstätigkeit gibt als die Prostitution. Unser Gehirn feilzubieten kann gefährlicher und herabwürdigender sein, als den Zugang zu unseren Vaginen zu verkaufen“ (Federici, 2020: 38). Mir sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Professor:innen (wie Federici) aufgrund ihrer Kerntätigkeit (wissenschaftliche Texte lesen und schreiben; Vorträge halten etc.) eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben. Dass einige/viele/die meisten Frauen in der Prostitution mit massiven psychologischen Folgen der Prostitution zu kämpfen haben, ist hingegen gut dokumentiert (vgl. Mau, 2022; Social-Media-Präsenz von Daria Ivanovicova).

Den Ergebnissen einer Befragung von 475 Personen in der Prostitution in fünf verschiedenen Ländern folgend erfüllten 67% der Befragten die Kriterien zur Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Auch wenn hier – wie bei allen Studien in diesem Bereich – die Repräsentativität der Befragten nicht gewährleistet werden kann, die PTBS bei einigen Personen auch bereits vor der Prostitution bestanden haben könnte und Deutschland nicht zu den untersuchten Ländern gehörte, verweisen diese Zahlen auf ein unbestreitbar enorm hohes sexualisiertes Gewalterleben in der Prostitution und auf daraus folgende immense innere Verwüstungen (Farley, Baral, Kiremire und Sezgin, 1998).

[18] Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf cis-Männer und cis-Frauen bzw. auf Personen, die als cis-weiblich wahrgenommen werden. Das hat den Hintergrund, dass Sex-Arbeit/Prostitution in der überwiegenden Zahl der Fälle ein Verhältnis zwischen diesen Personengruppen beinhaltet (cis-Männer kaufen Sex von cis-Frauen bzw. von Personen, die sie als cis-weiblich wahrnehmen). Die spezifische Position von anderen Geschlechtern bleibt unberücksichtigt. Jedoch ist es sehr wahrscheinlich, dass die spezifische Situation von z.B. Frauen, die als transweiblich wahrgenommen werden, in der Prostitution durch eine besondere transmisogyne Vulnerabilität charakterisiert ist. Die Ausblendung soll daher keinesfalls suggerieren, dass transmisogyne Gewalt außerhalb und innerhalb der Prostitution prinzipiell vernachlässigbar sei. Ganz im Gegenteil: theoretische und empirische Auseinandersetzungen mit transmisogyner Gewalt außerhalb und innerhalb der Prostitution würden das Bild von (sexualisierter) Gewalt außerhalb und innerhalb der Prostitution erweitern. Gleiches gilt für Gewalt gegen andere vulnerable Personen außerhalb und innerhalb der Prostitution.

So ist beispielsweise für das Jahr 2020 bekannt, dass weltweit mindestens 375 trans-Personen bzw. nicht-binäre Personen ermordet worden sind. Davon waren 97% Frauen bzw. transfeminine Personen. Unter denjenigen Personen, die ermordet wurden und deren berufliche Tätigkeit bekannt ist, waren knapp 60% aus der Prostitution (https://transrespect.org/en/tmm-update-tdor-2021/). In der Prostitution zu sein, stellt also für Frauen, die trans sind, bzw. für transfeminine Personen ein sehr hohes Risiko dar, ermordet zu werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Morde in der Prostitution die Spitze eines Eisbergs gravierender Gewalt gegen diese Personengruppe innerhalb der Prostitution darstellen.

[19] In einer repräsentativen Befragung im Jahr 2020 gaben 15% der befragten Frauen an, dass mindestens einmal in ihrem Leben andere versuchten, gegen ihren Willen Sex mit ihnen zu haben bzw. dass es gegen ihren Willen zum Sex kam (vgl. Brunner, Tozdan, Klein, Dekker und Briken, 2021).

[20] Diese spezifische Form der Sexualität ist Resultat der Herrschaft im Geschlechterverhältnis. Die vielfach von Männern ausgehende einseitige Sexualisierung geht nicht auf ‚natürliche‘ Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Stärke sexueller Bedürfnisse zurück. Ebenso wenig ist es ‚natürlich‘, dass manche/viele Männer aus der (sexuellen) Degradierung von Frauen Lustgewinn ziehen. 

[21] Wie diese Beschreibung von Huschke Mau erkennen lässt, entscheiden sich zahlreiche Frauen vor dem Hintergrund massiver Gewalterfahrungen außerhalb der Prostitution, die sie erleiden mussten, und der damit einhergehenden immensen inneren Verwüstungen für die Prostitution (siehe ausführlich Mau, 2022). Bei einer Befragung von 110 Frauen aus verschiedenen Prostitutionsbereichen in Leipzig im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gaben knapp die Hälfte der befragten Frauen in der Prostitution (43%) sexuelle Missbrauchserfahrungen während der Kindheit und Jugend an, wohingegen in einer repräsentativen Vergleichsgruppe aller Frauen in Deutschland sexuelle Missbrauchserfahrungen in diesem jungen Alter mit 10% deutlich seltener berichtet wurden (BFSFJ, 2005a: 81). Rund drei Viertel der befragten Frauen in der Prostitution erlebte zudem körperliche Gewalt durch Eltern oder Erziehungspersonen, wobei dieser Anteil ebenfalls höher lag als in der Vergleichsgruppe aller Frauen in Deutschland (BFSFJ, 2005a: 79)

Die Entscheidung für die Prostitution hat also regelmäßig das Erleiden (sexualisierter) Gewalt außerhalb der Prostitution in der Kindheit oder der Jugend zur Voraussetzung; sie wird von immensen inneren Verwüstungen gebahnt. Augenscheinlich verengt außerhalb der Prostitution erlebte (sexualisierte) Gewalt für die davon betroffenen Frauen die denkbaren Optionen, sich in einer bislang als degradierend, als demütigend und als gewalttätig erlebten Realität relativ behaupten zu können, rigoros – und ebnet so den Weg in die Prostitution, insbesondere, wenn ökonomische Not hinzukommt (siehe letztes Kapitel dieser Broschüre). Die Entscheidung für die Prostitution ist also auf Individualebene oftmals ein Ausdruck der Zurichtungen, die prostituierte Frauen vor dem Eintritt in die Prostitution in einem patriarchalen System erfahren haben. Entsprechend ist diese Entscheidung auf gesellschaftsanalytischer Ebene als Ausdruck von sexistischer Gewalt und Herrschaft außerhalb der Prostitution zu verstehen.

Folglich sollte die Entscheidung für die Prostitution aus feministischer Perspektive nicht als ‚feministische Handlungsmacht‘ (agency) missverstanden werden – eine Perspektive, die sex-work positive Feminist:innen oftmals einnehmen. Auch wenn das Anliegen von sex-work positiven Stimmen, prostituierte Frauen nicht allein als ‚Opfer der Umstände‘, sondern als handlungsmächtige Individuen zu begreifen, nachvollziehbar ist, läuft die Akzentuierung von Handlungsmacht Gefahr, gewaltvolle misogyne Zurichtungen unsichtbar zu machen. Eine genuin feministische Perspektive sollte im Gegensatz dazu gesellschaftliche Strukturen, die Handlungsoptionen durch sexistische Gewalt und Herrschaft dramatisch begrenzen und den Weg in ein gewaltvolles Prostitutionssystem bahnen, nicht aus dem Blick verlieren.

[22] Nach einem vereinfachenden Verständnis, das zwischen Freiwilligkeit und Zwangsprostitution unterscheidet, hat sie sich also ‚freiwillig‘ prostituiert – ‚nur‘ aus ökonomischer Not heraus. Dieser Hinweis erscheint mir an dieser Stelle relevant, um zu verdeutlichen, dass massive Formen von Freiergewalt erstens nicht ausschließlich im ‚Niedrigpreis‘-Bereich und zweitens nicht ausschließlich in der Zwangsprostitution auftreten. Auch Daria Ivanovicova selbst weist auf diese unzutreffende Vorstellung hin.

[23] Empirische Befragungen zum Gewalterleben von Frauen in der Prostitution bestätigen diese Annahme einer Systematik von (sexualisierter) Gewalt durch Freier. Bei den Angaben aus empirischen Befragungen handelt es sich vermutlich lediglich um die Spitze eines Eisbergs aus (sexualisierter) Gewalt in der Prostitution. Denn es stellt im Allgemeinen eine große Herausforderung dar, Frauen in der Prostitution für eine Teilnahme an einer empirischen Befragung zu gewinnen. Es könnten insbesondere solche Frauen, die bislang vergleichsweise weniger massive Gewalt erleiden mussten, sein, die sich zu einer Befragung bereit erklären. Auch ist es recht wahrscheinlich, dass ein Befragungssetting, das als nicht geschützt wahrgenommen wird, dazu führt, dass schwerwiegende Eingriffe in die (sexuelle) Selbstbestimmung aus Selbstschutz nicht offen mitgeteilt werden. So berichten Aktivistinnen aus der Prostitution davon, dass sie die von ihnen erlebte Gewalt auch vor sich selbst kleingeredet haben, um ‚weitermachen‘ zu können, als sie noch in der Prostitution waren (z.B. Instagram Account von Daria Ivanovicova; Mau, 2022). Zudem kann es sein, dass in einem insgesamt als hochgradig sexuell missbräuchlich erlebten Kontext die Schwelle, eine Situation z.B. als Vergewaltigung oder als eine andere Form von Gewalt zu benennen, bei den Befragten besonders hoch liegt. Darüber hinaus werden verschiedene Gewaltformen, wie sie von Aktivistinnen aus der Prostitution als typisch für das Prostitutionsgeschehen beschrieben werden, in den Befragungen nicht miterfasst. Ob und wie sehr Freier im Vorfeld der Prostitutionssituation auf bestimmte Handlungen drängen und die Frauen (auch aus ökonomischer Not oder aufgrund eines Zwangs, der von Dritten ausgeht) in dieses Drängen entgegen ihrer Grenzen von sexueller Intimität einwilligen mussten, wurde zum Beispiel in den Befragungen nicht miterfasst.

In einer Befragung von 110 Frauen aus verschiedenen Prostitutionsbereichen in Leipzig im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gaben rund 80% der befragten Frauen an, dass sie Angst vor sexuellen oder körperlichen Übergriffen durch Freier hätten (BFSFJ, 2005a: 56). 21% der befragten Frauen gaben an, im Prostitutionskontext mindestens einmal vergewaltigt worden zu sein – am häufigsten wurden dabei Freier als Täter genannt (BMFSFJ, 2005a: 70). Rund 40% der befragten Frauen hatten entweder sexualisierte oder körperliche Gewalt im Prostitutionskontext, die hauptsächlich von Freiern ausging, erlebt – wobei man ergänzen muss, dass die zur Auswahl stehenden Formen sexualisierter und körperlicher Gewalt massive Grenzverletzungen beinhalteten (BMFSFJ, 2005a: 70). Zu noch dramatischeren Befunden kam eine empirische Studie in Hamburg. Dort gaben bei einer Befragung 71% der befragten Frauen in der Prostitution an, im Zusammenhang mit der Prostitution vergewaltigt worden zu sein (Zumbeck, 2001) – damit läge das Risiko, in der Prostitution vergewaltigt zu werden, bei etwa 3 zu 1. In einer Studie in verschiedenen Ländern, zu denen Deutschland nicht gehörte, gaben 62% der Befragten an, seit Eintritt in die Prostitution vergewaltigt worden zu sein, und 73% erlebten körperliche Gewalt (Farley, Baral, Kiremire und Sezgin, 1998).

[24] Nicht nur sex-work positive Sex-Arbeiter:innen, sondern auch prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution beschreiben, dass sie auch ‚nette‘ Freier erlebt hätten – sofern unter ‚nett‘ verstanden wird, dass sich diese Männer während der Absprachen und des Geschlechtsverkehrs nicht dezidiert über artikulierte sexuelle Grenzen hinwegzusetzen versucht haben. Letztere verweisen in diesem Zusammenhang jedoch auf den Umstand, dass Prostitution für sie im Kern Gewalt und sexuellen Missbrauch beinhaltet (siehe vorangegangener Abschnitt: Widersprüchliche Perspektiven auf den Verkauf von Sex). Dieses Gewalterleben schließt auch Situationen mit ‚netten‘ Freiern ein. Zudem verweisen sie darauf, dass sich auch ‚nette‘ Freier durch ihre Verstrickung in das System der Zwangsprostitution hochgradig schuldhaft verhalten (siehe nächster Abschnitt) (vgl. Mau, 2022; Instagram Account von Daria Ivanovicova).

[25] Ein einziges Mal hat mich ein Freier ausgesprochen höflich angesprochen. Als ich abwehrend reagierte und er das wohl als Hinweis darauf deutete, dass ich mich nicht prostituiere(n muss), entschuldigte er sich dafür, mich für eine Prostituierte gehalten zu haben. Mir ist schleierhaft, warum es in seinen Augen augenscheinlich in Ordnung ist, Frauen in der Prostitution Angebote zum Sexverkauf zu unterbreiten, wohingegen es ihm in Bezug auf andere Frauen als unangemessen erscheint. So weisen verschiedene prostitutionskritische Aktivistinnen aus der Prostitution darauf hin, dass sich Frauen in der Prostitution selbstverständlich nicht von anderen Frauen in Bezug auf das Empfinden von sexuellen Grenzen und sexueller Intimität unterscheiden (vgl. z.B. Mau, 2022). Der Unterschied zwischen Frauen in und außerhalb der Prostitution liegt in der Regel lediglich darin, dass erstere unter anderem aufgrund von ökonomischer Not oder aufgrund anderer Formen des Zwangs Freier nicht abweisen können bzw. nicht alle Freier abweisen können. Mit diesem Aspekt fehlender alternativer Optionen und der Beurteilung des Verhaltens von Freiern auf einer allgemeinen Ebene beschäftigt sich das letzte Kapitel.

[26] Ähnlich argumentiert auch Mau (2022). Sie setzt sich auch mit der Zentrierung um männliche Bedürfnisse in und außerhalb der Prostitution auseinander.

[27] An dieser Stelle steht im Text „tatsächlich“, weil Freier natürlich (mit Ausnahme der dezidierten Sadisten) auf die Illusion, dass der Sex auch für die Frauen in der Prostitution lustvoll sei, bestehen. Wenn die Frau im Prostitutionsgeschehen z.B. weint, das Gesicht vor Ekel verzieht oder auf andere Art deutlich wird, dass es ihr keinen Spaß bereitet, reagieren Freier aggressiv und/oder sehen sich um die gute Dienstleistung betrogen, auf die sie vermeintlich einen Anspruch hätten (vgl. auch Mau, 2022).

Diese misogyne Vorstellung, dass Frauen auch bei (starkem) Missfallen oder Gewalterleben die Pflicht hätten, Lust darzustellen, findet sich auch in Vorstellungen außerhalb der Prostitution. So war es nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch lange Zeit Pflicht für Ehefrauen, den Sex nicht nur über sich ergehen zu lassen, sondern dabei auch die Illusion von Lust zu simulieren. 1966 urteilte der Bundesgerichtshof folgendermaßen: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen […] versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen. Denn erfahrungsgemäß vermag sich der Partner […] kaum jemals mit der bloßen Triebstillung zu begnügen, ohne davon berührt zu werden, was der andere dabei empfindet.“ Auch wenn diese Idee, dass Frauen in der Ehe die Pflicht hätten, Lust zu simulieren, im deutschen Recht mit der Möglichkeit der strafrechtlichen Ahndung von Vergewaltigungen in der Ehe im Jahr 1997 de facto zurückgenommen wurde, steht dennoch zu vermuten, dass manche/viele Männer immer noch der Vorstellung nachhängen, dass sie ein Anrecht darauf hätten, dass ihre Sex-Partnerin außerhalb der Prostitution Lust darstellt, auch wenn das nicht ihrem tatsächlichen inneren Erleben entspricht.

Bedeutsamer an dieser Stelle ist allerdings, dass uns diese antiquierte Vorstellung zu den ‚ehelichen Pflichten‘ von Frauen aus dem Jahr 1966 brutal, frauenverachtend und herabwürdigend erscheint. Hier wird von Frauen nicht nur gefordert, ungewünschten Sex (also im schlimmsten Fall: eine Vergewaltigung) über sich ergehen zu lassen, sondern sie sollen auch zusätzlich Gewalt gegen sich selbst anwenden, indem sie ihre Gefühle (von z.B. Widerwillen, Ekel, Angst, Panik, Hilflosigkeit, Ohnmacht) unterdrücken. Das innere Erleben von Gewalt soll in der äußeren Welt als Lust dargestellt werden. Das, was uns in der Ehe im Jahr 1966 als brutal und frauenverachtend erscheint, weil es als fundamentale Verleugnung der inneren Regungen Gewalt gegen sich selbst einschließt, gehört jedoch zu den Kernmerkmalen der Prostitutionstätigkeit: auch wenn die Situation als degradierend, ekelerregend und gewaltvoll wahrgenommen wird, sollen die prostituierten Frauen Lust simulieren. Als Psychologin weiß ich, dass solche Formen der sexualisierten Gewalt oder Vergewaltigung, in denen man aufgrund von immensen äußerem Druck etwas ganz anderes tut als es dem inneren Empfinden entsprechen würde, besonders schwere innere Verwüstungen hinterlassen (können).

[28] Vgl. Döring, Walter, Mercer, Wiessner, Matthiesen und Briken (2022)

[29] Für Deutschland existieren leider keine repräsentativen Studien, die das Aufkommen sexualisierter Gewalt gegen Frauen und als cis-weiblich wahrgenommene Personen über Jahre hinweg mittels des gleichen Befragungsinstruments untersuchen würden. Es ist jedoch bekannt, dass im Jahr 2004 13% der in einer repräsentativen Erhebung befragten Frauen mindestens einmal im Laufe ihres Lebens strafrechtlich relevante sexuelle Nötigung, wovon die Vergewaltigung die schwerste Form darstellt, erlebt hatten (vgl. BMFSFJ, 2005b: 66). 16 Jahre später, also im Jahr 2020, berichteten in einer ebenfalls repräsentativen Befragung 15% der Frauen davon, dass mindestens einmal in ihrem Leben andere versuchten, gegen ihren Willen Sex mit ihnen zu haben bzw. dass es gegen ihren Willen zum Sex kam (vgl. Brunner, Tozdan, Klein, Dekker und Briken, 2021). Auch wenn die Fragestellungen dieser beiden Studien leicht voneinander abweichen, deuten diese Studien darauf hin, dass für diese Zeitspanne von 16 Jahren kein Rückgang im sexualisierten Gewaltaufkommen gegen Frauen zu verzeichnen ist, sondern dass es vielmehr gleichbleibend wahnsinnig hoch geblieben ist.

[30] In leichter Abwandlung und mit leicht anderen Begriffen weisen auch prostitutionskritische Aktivist:innen aus der Prostitution auf die Gefahr hin, dass Prostitution und (Mainstream-)Pornographie Gewalt gegen Frauen außerhalb der Prostitution befeuern könnten (vgl. Mau, 2022; Instagram Account von Daria Ivanovicova). Auch deswegen kann das Herausarbeiten der gesamtgesellschaftlichen Implikationen der Prostitution nicht einfach als prostituierten- bzw. sex-arbeiter:innenfeindlich abgetan werden (wie dies teils unter dem SWERF-Vorwurf geschieht). Das Aufzeigen antifeministischer Konsequenzen der Prostitution in feministischer Absicht richtet sich nicht gegen Sex-Arbeiter:innen/Frauen in der Prostitution, sondern gegen das gesellschaftlich dominierende System der Prostitution.

Gleichwohl muss bei einer feministischen Kritik an der Prostitution, die ihre möglichen Konsequenzen für das Geschehen außerhalb der Prostitution aufzeigt, gegen ein prostituiertenfeindliches Fahrwasser angearbeitet werden. Denn die Gefahr, dass sich diese Kritik an der Prostitution in der Wahrnehmung von Personen, die nicht solidarisch mit prostituierten Frauen sind, gegen diese Frauen richtet, besteht durchaus.

[31] In Wien wurde diese Einordnung von Sex-Arbeit als Care-Arbeit von anderen Feminist:innen kritisiert (siehe: https://lowerclassmag.com/2022/04/01/prostitution-ist-ausbeutung-gegen-patriarchale-mythen-und-gewalt-an-frauen/).

[32] Ich spreche an dieser Stelle bewusst nicht allgemein von FLINTA, sondern meine cis-Frauen und als cis-weiblich wahrgenommene Personen. Ich vertrete die Ansicht, dass die geschlechtsspezifische Zuweisung von ‚reproduktiver‘ bzw. Care-Arbeit und ‚produktiver‘ Arbeit im Kapitalismus der binären Geschlechterlogik folgt. Auch diese Arbeitsteilung stützt die binäre Geschlechterordnung, die aus queerfeministischer Perspektive zu kritisieren ist. Im gesellschaftlich dominanten queerfeindlichen Blick haben queere Personen, die als queer wahrgenommen werden, keinen Ort in dieser Aufteilung, was aus gesellschaftsanalytischer Perspektive ein maßgeblicher Grund ihrer fragilen gesellschaftlichen Position ist.

Weiterhin berücksichtigt die Nennung von FLINTA als Personengruppe, der Care-Arbeit zugewiesen würde, bestimmte Aspekte von queerfeindlicher Abwertung nicht. Im gesellschaftlich dominanten transphoben Blick wird Frauen, die als trans-weiblich wahrgenommen werden, beispielsweise keine besondere Befähigung im Umgang mit Kindern zugeschrieben. Denn im gesellschaftlich dominanten Blick unterscheiden sich trans-Frauen von cis-Frauen, z.B. in Bezug auf eine vermeintlich natürliche Befähigung zum Umgang mit Kindern. Gleiches gilt für Personen, die als nicht-binär wahrgenommen werden.

[33] Erst vor Kurzem ist im linken Unrast-Verlag ein Buch erschienen, das Sex-Work als Care-Work versteht. Die Herausgeber:innen suggerieren eine gesellschaftliche Notwendigkeit von Sex-Arbeit (auch wenn sie dies nicht dezidiert ausbuchstabieren) und fordern auch vor diesem Hintergrund ihre gesellschaftliche Anerkennung. Siehe z.B. Interview mit den Herausgeber:innen: https://bsd-ev.info/sexarbeit-feministische-perspektiven/

[34] Die Frage, ob es in einer befreiten Gesellschaft Sex-Arbeit geben muss, ist eine andere Frage als die, ob es Sex-Arbeit in einer befreiten Gesellschaft geben könnte. Auseinandersetzungen darüber, was in einer befreiten Welt sein könnte, sind sehr voraussetzungsreich. In diesem Fall hätte eine Auseinandersetzung darüber im Mindesten zur Voraussetzung, dass grob umrissen wird, wie eine ‚befreite Gesellschaft‘ organisiert ist und was in einer befreiten Gesellschaft unter ‚Arbeit‘ bzw. ‚Sex-Arbeit‘ verstanden wird, und weiterhin wäre darüber nachzudenken, ob und wie sich Bedürfnisstrukturen in einer befreiten Gesellschaft verändern könnten. Diese voraussetzungsreiche, in meinen Augen wenig zielführende Diskussion will ich an dieser Stelle nicht führen, sondern lediglich auf eine Problematik hinweisen:

Sex-work positive Feminist:innen, die argumentieren, dass es Sex-Arbeit in einer befreiten Gesellschaft geben könnte, beziehen sich in der Regel auf den Umstand, dass es aktuell Sex-Arbeiter:innen, denen ihre Tätigkeit Freude bereitet, gibt. Als Argument bezüglich einer utopischen Perspektive ist dieser Hinweis nicht an sich problematisch, auch wenn danach zu fragen wäre, ob und wie sich Bedürfnisstrukturen und somit das Empfinden von Freude in einer befreiten und geschlechteregalitären Gesellschaft verändern würden. In Bezug auf die Gegenwart möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass dieses Argument – natürlich ungewollt – misogynen Freiern das Wort reden kann. So beschreibt Huscke Mau (2022), dass ihr diese Vorstellung, wonach sie ihr Hobby zum Beruf gemacht habe, von Freiern entgegengeschleudert wurde und sie dies als degradierend empfunden habe. Weil diese Idee für Freier eine Möglichkeit darstellt, sich trotz gegenteiliger Evidenz in der gesellschaftlich dominierenden Form der Prostitution ein reines Gewissen zu erheucheln, kann ich ihre Abwehr gegen diesen Satz unmittelbar nachvollziehen. Es ist eine von Freiern praktizierte Verdrehung der Realität, die darauf zielt, die grundsätzliche Potentialität und Realität eines Gewalterlebens von Frauen in der Prostitution auszuradieren und ihre vulnerable Situation als Ausdruck ihrer vermeintlichen Nymphomanie umzudeuten. Einen besonders abstoßenden Unterton erhält diese Äußerung aus dem Mund von Freiern aufgrund des gesellschaftlich dominanten Blicks, wonach sexuell aktive Frauen als ‚Schlampen‘, die nur bedingt sexuell vulnerabel seien, gelten. Aus dem Mund von Freiern ist es also ein männlicher Versuch, Frauen in der Prostitution zu beschämen und die ihnen zugefügte Gewalt zu relativieren (vgl. Mau, 2022).

[35] Unter anderem um der Gefahr von Ausbeutung in der Prostitution durch z.B. Zuhälter und Menschhändler entgegenzuwirken, ist die Prostitution in Deutschland jedoch bestimmten Sonderregeln unterworfen, die im sogenannten Prostituiertenschutzgesetz festgehalten sind. Solche Sonderregeln gelten für andere ‚Arbeitsbereiche‘ nicht (z.B. sind Personen in der Prostitution dazu verpflichtet, ein Beratungsgespräch wahrzunehmen). Dieses Gesetz wird einhellig von sex-work positiven und prostitutionskritischen Organisationen dafür kritisiert, dass es entgegen der erklärten Absicht der Legislative die Situation von Sex-Arbeiter:innen/Personen in der Prostitution eher verschlechtert habe und dass es nicht gegen Zwangsprostitution schütze.

Die deutsche Gesetzgebung zur Prostitution ist im Verhältnis zu vielen anderen Ländern sehr liberal. In einigen Ländern gilt das sogenannte Sexkaufverbot, das heißt, dass die Inanspruchnahme von Prostitution verboten ist. Das Angebot zum Sexkauf, also das Verhalten von Personen in der Prostitution, ist hier legal. Das erste Land, das ein Sexkaufverbot bei gleichzeitiger Entkriminalisierung von Personen in der Prostitution eingeführt hat, war Schweden im Jahr 1999. Andere Länder sind diesem Modell gefolgt und haben den Kauf von Sex ebenfalls verboten: Norwegen und Island im Jahr 2009, Nordirland 2015, Frankreich 2016 und die Republik Irland 2017. Auch in Kanada gilt seit 2014, in Israel seit 2018 eine entsprechende Regelung. In Finnland ist der Kauf von Sex verboten, wenn Menschenhandel im Spiel ist.

In einigen europäischen Staaten (Albanien, Litauen, Kroatien, Vatikan) sind sowohl der Sexkauf als auch das Angebot durch prostituierte Personen verboten. Nicht nur Freier, sondern auch Personen in der Prostitution werden hier strafrechtlich verfolgt. Unstrittig ist in meinen Augen, dass eine solche Regelung, die prostituierte Frauen kriminalisiert, nicht feministisch ist.

In vielen anderen Ländern sind sowohl der Sexkauf als auch das Angebot durch prostituierte Personen grundsätzlich legal, verboten sind jedoch häufig alle Formen von Zuhälterei oder der Betrieb von Bordellen. Das ist der Fall in z.B. Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Estland, in der Tschechischen Republik, Polen, Rumänien, der Slowakei oder Großbritannien. Im Verhältnis zu manch anderer europäischer Regelung ist die deutsche Gesetzgebung also auch deswegen liberal, weil im Unterschied zu vielen weiteren europäischen Ländern das Betreiben von Bordellen und allen anderen geschäftlichen Aktivitäten rund um die Prostitution legal ist.

[36] Anders verhält es sich z.B. mit Aussagen von Polizist:innen zu rassistischer Gewalt oder rechten Umtrieben in den eigenen Reihen, die von einer dominanten Tendenz der Leugnung geprägt sind.

[37] https://www.instagram.com/tv/CbR4tivDyix/?utm_source=ig_web_copy_link

[38] Auf einen solchen Zusammenhang weisen viele Personen hin (z.B. Sporer, 2021; Mau, 2022; Sandra Norak).

[39] Konkret fehlen verlässliche Daten zum Ausmaß der Prostitution insgesamt und zum Ausmaß der Zwangsprostitution/Menschenhandel, im zeitlichen Verlauf in Abhängigkeit von der Gesetzeslage. Eine wissenschaftliche Studie spricht eher für diesen vermuteten Zusammenhang (Cho, Dreher und Neumayer, 2013). Hier haben die Forscher:innen mittels quantitativer querschnittlicher internationaler Daten dargelegt, dass im internationalen Vergleich das Aufkommen von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung dann besonders hoch ist, wenn die Prostitution legal ist, wohingegen es bei einem Prostitutionsverbot eher niedrig ausfällt. Als möglichen Grund sehen die Autor:innen in gewisser Hinsicht die Nachfrageseite. Sie formulieren, dass weniger strenge Prostitutionsgesetze zu einer Ausweitung der Prostitution führen könnten, wodurch auch die Zahl derjenigen Personen, die zwangsweise in der Prostitution sind, zunimmt. Wie alle wissenschaftlichen Studien in diesem Bereich ist aber auch diese methodisch angreifbar – allein wegen der schwierigen Datenlage im Feld der Prostitution.

[40] Wörtlich steht auf einer sex-work positiven Internet-Seite Folgendes: „Some SWERFs also argue that sex workers who do choose to enter the profession voluntarily and are happy with their work tend to come from privileged backgrounds, claiming that these are the individuals mainstream feminists champion while ignoring those who perform sex work because they are coerced to do so. Many feminists counter this claim as well, noting that satisfaction with a profession within the industry is not limited to ‘privileged’ women.” (https://fairygodboss.com/career-topics/swerf)

[41] Ausführlich berichten davon z.B. Huschke Mau (2022) und Daria Ivanovicova auf ihrem instagram-Account.

[42] In Gesprächen berichten immer wieder deutsche Studentinnen aus wohlhabenden Familien oder relativ privilegierte Frauen mit zahlreichen beruflichen Optionen, dass sie es in der Vergangenheit in Erwägung gezogen hätten oder aktuell in Erwägung ziehen würden, sich zu prostituierten. Etwas für den Moment in Erwägung zu ziehen, ist jedoch etwas grundlegend anderes als diesen Schritt tatsächlich zu gehen und auch daran festzuhalten – also tatsächlich in der Prostitution zu bleiben. Es kann natürlich sein, dass diese Frauen diesen Schritt tatsächlich gehen. Es kann auch sein, dass sich dieser Weg dauerhaft als für sie passend erweist. So gibt es Sex-Worker:innen mit alternativen Optionen, die zum Ausdruck bringen, dass sie diesen Schritt als eine gute Entscheidung für sich wahrnehmen.

Statistisch betrachtet ist es jedoch um ein Vielfaches wahrscheinlicher, dass diese relativ privilegierten Frauen diesen Schritt nie gehen werden bzw. nicht in der Prostitution bleiben werden – unter Umständen auch deswegen, weil sich die Realität der Prostitution für viele ganz anders darstellt, als sie es erwartet haben. So wird der Verkauf von Sex als solcher von zahlreichen prostituierten Frauen als degradierender und gewaltvoller empfunden, als sie es zuvor angenommen haben (vgl. in gewisser Hinsicht Mau, 2022; vgl. mein Gespräch mit der jungen Frau zu Beginn der Broschüre). Zudem ist massive Gewalt durch Freier, in denen die explizit gesetzten Grenzen gedehnt oder durchbrochen werden und in der Lust aus der (sexuellen) Demütigung gezogen wird, unter Umständen ein Phänomen, das (relativ privilegierte) Frauen, die über die Prostitution nachdenken, nicht antizipieren.

[43] In neuerer Zeit wird auch von einigen sex-work positiven Stimmen anerkannt, dass die Frauen, die sich aus ökonomischer Not prostituieren müssen, dies vermutlich „nicht gerne“ tun. Dabei werden Analogien zu ‚anderen‘ Berufen gezogen. So würden beispielsweise die wenigsten Personen gerne als Pflegekraft arbeiten. Die Personen, die aktuell in der Pflege sind, seien „auch nicht 100% begeistert davon, Exkremente anderer Menschen zu entfernen“ (Zitat vom Instagram Account „der_hase_im_pfeffer“). Auch wenn wir als Feminist:innen die teils ungeheuerlichen Arbeitsbedingungen von insbesondere osteuropäischen und weiblichen 24-Stunden Pflegekräften vor Augen haben sollten, ist es kein analytischer Gewinn, wenn in der feministischen Kritik alles, was aus feministischer Perspektive zu kritisieren ist, als ‚gleich schlimm‘ fehlgedeutet wird. Denn bei den soeben wiedergegebenen Überlegungen wird systematisch ausgeblendet, dass der Verkauf von Sex als solcher von etlichen Frauen als gewaltvoll erlebt wird und dass die Prostitution systematisch von Freiergewalt, die explizit gesetzte Grenzen dehnt und durchbricht, durchzogen ist. Sich unter ökonomischen und/oder anderen Zwängen prostituieren zu müssen, ist daher aufgrund der grundsätzlichen Potentialität und Realität massiver sexualisierter Gewalt etwas grundlegend anderes als unter ökonomischen und/oder anderen Zwängen als Pflegekraft zu arbeiten. Folglich nivellieren solche falschen Analogien das Gewalterleben von Frauen in der Prostitution.

[44] Ausführlich analysiert Huschke Mau zudem das rassistisch-sexistische Framing, dem Frauen in der Prostitution durch Freier ausgesetzt sind. Dabei beschreibt sie unter anderem einen Rassismus gegen asiatische Frauen, gegen Schwarze Frauen und einen antiziganistischen und antislawischen Rassismus (vgl. Mau, 2022).

[45] Unter den ermittelten Opfern von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung sind besonders viele Romnja (https://www.state.gov/reports/2020-trafficking-in-persons-report/germany/). Auch wenn zum allgemeinen Prostitutionsgeschehen bezüglich der Merkmale von Frauen in der Prostitution keine verlässlichen Zahlen vorliegen, ist es auch vor diesem Hintergrund und in Übereinstimmung mit dem aus Freierforen gewonnenen Bild sehr wahrscheinlich, dass in Deutschland auch im Allgemeinen sehr viele Romnja in der Prostitution sind. Der strukturelle Antiziganismus erzeugt also massive ökonomische Not, die dazu führt, dass sich Romnja, teils unter gravierenden Gewalttätigkeiten durch Dritte, in Deutschland prostituieren müssen. Die weiblichen Nachkommen derjenigen Personen, die während des Nationalsozialismus im Porajmos, also während der Vernichtung von Sinti:zze und Rom:nja, ermordet werden sollten, müssen sich also aktuell in den legalen Bordellen und auf dem legalen Straßenstrich in Deutschland prostituieren, wo auch die männlichen Nachkommen der nationalsozialistischen Täter:innen unter diesen Bedingungen Sex mit ihnen kaufen und sie regelmäßig zu demütigenden sexuellen Handlungen nötigen und die von ihnen gesetzten Grenzen dehnen oder durchbrechen. Bei diesem Prostitutionsgeschehen handelt es sich also um einen gravierenden Ausdruck eines strukturellen und hochgradig gewaltvollen Antiziganismus.

[46] Siehe Instagram Account von „der_hase_im_pfeffer“, wo vereinfachend zwischen Sex-Arbeit und Zwangsprostitution unterschieden wird. Auch schrieben die Organisator:innen der Demonstration zum feministischen Kampftag 2022 in Kassel in ihrer Begründung zum Ausschluss von sogenannten SWERFs folgendes: „Lasst uns Sexarbeit und Zwangsprostitution nicht gegeneinander ausspielen!“

[47] So berichteten in einer Studie in fünf verschiedenen Ländern, zu denen Deutschland nicht gehörte, aus dem Jahr 1998 rund 90% der befragten 475 prostituierten Personen, dass sie sich einen Ausstieg aus der Prostitution wünschen würden (Farley, Baral, Kiremire und Sezgin, 1998). Auch wenn diese Studie – wie alle empirischen Arbeiten in diesem Bereich – in Bezug auf die Repräsentativität der Befragten angreifbar ist, führt sie dennoch im Mindesten zweifelsfrei vor Augen, dass in einigen Prostitutionsbereichen der starke Wunsch nach einem Ausstieg aus der Prostitution ausgesprochen weit verbreitet ist. Weil die Prostitution in Deutschland von ökonomischer Not und Gewalt durch Dritte, also von Fremdbestimmtheit und Zwang, durchtränkt ist, erscheint es sehr wahrscheinlich, dass der Anteil von Frauen, die sich einen Ausstieg aus der Prostitution wünschen, in Deutschland bei einer repräsentativen Befragung ebenfalls sehr hoch ausfallen würde. 

[48] Ähnliche Argumente finden sich auch bei Mau (2022) oder auf dem Instagram Account von Daria Ivanovicova.

[49] So finden sich sex-work positive Stimmen, die darauf drängen, dass Sex-Arbeit als sinnvolle Tätigkeit anerkannt wird, weil sie sexuellen Bedürfnislagen entgegenkommt. Folgendes Zitat ist einem Interview mit den Herausgeber:innen des Buchs „Sexarbeit: Feministische Perspektiven“ aus dem Unrast-Verlag entnommen:

„Sexualität ist – für die meisten Menschen – Teil der wichtigen Reproduktionsarbeit. Gerade in unserer heutigen Gesellschaft mit enormem Stress auf der Arbeit, Doppelbelastung von Berufs- und Privatleben, immer mehr Singles, Senior*innen, die isoliert oder in der engen Struktur von Heimen wohnen, sowie einer allgemeinen gesellschaftlichen Kälte, gibt es einen Bedarf an Sexarbeit, um die unterschiedlichen Bedürfnisse ausleben zu können, für die es im Privaten nichts vergleichbares mehr gibt.“ Im weiteren Verlauf des Interviews argumentieren die Interviewten auch vor diesem Hintergrund für eine Anerkennung und Aufwertung von Sex-Arbeit. https://bsd-ev.info/sexarbeit-feministische-perspektiven/

[50] In leicht anderer Argumentation weist auch Huschke Mau (2022) darauf hin, dass das „Hurenstigma“ zentral von Freiern aufrechterhalten würde – sie sind es als gesellschaftliche Gruppe, die auf das Stigma angewiesen ist.

[51] Zuletzt war ein solches männliches Verhalten recht anschaulich in der Sendung „deep und deutlich“ zu beobachten. In der Talkrunde hat Sascha Lobo Huschke Mau mehrfach unterbrochen. Er hat unter anderem darauf insistiert, dass Huschke Maus Ausführungen zur Problematik der Umgehung von sexuellem Konsens innerhalb der Prostitution Vergewaltigungen verharmlose. Mit Verweis auf vorherige Ausführungen zu einer selbstbestimmten Sex-Workerin sagte er, dass die von dieser Sex-Workerin erlebten Situationen in der Sex-Arbeit auch als Vergewaltigung eingeordnet werden müssten – wenn man die Ausführungen von Huschke Mau auf die Umgehung von sexuellem Konsens in der Prostitution ernst nehme. Dies würde in seinen Augen jedoch Vergewaltigungen verharmlosen. Den eigentlichen Punkt – dass nämlich andere Frauen als die konkrete selbstbestimmte Sex-Workerin dieses Tauschverhältnis als gewaltvoll oder gar als einer Vergewaltigung ähnlich empfinden könnten und dass ein konkreter Freier dies nie wissen kann, dass es also Freiern im besten Fall egal ist, wie die Situation von der konkreten Person tatsächlich erlebt wird und dass entsprechend Freier die Potentialität von massiver Gewalt zum Zwecke ihrer sexuellen Bedürfnisbefriedigung auf menschenverachtende Weise hinnehmen – ließ Sascha Lobo gänzlich außer Acht (vgl. einen Mitschnitt zur Sendung unter: https://www.youtube.com/watch?v=IKwhv7phC3g).

[52] Vgl. Döring, Walter, Mercer, Wiessner, Matthiesen und Briken (2022)

[53] Es finden sich auch prostitutionskritische Stimmen, die für das Nordische Modell eintreten, weil der Sex mit Frauen bzw. der Körper von Frauen bzw. Frauen keine Ware sein sollten. Ich denke, dass auch diese Argumentation fester Bestandteil feministischer Debatten bleiben muss – allein, weil es auch Aktivistinnen aus der Prostitution sind, die diese Ansicht vertreten. Ich selbst argumentiere jedoch nicht aus dieser Perspektive, weil sie voraussetzungsreich ist. Mein Argument bezieht sich zentral darauf, dass sexueller Konsens im Prostitutionsgeschehen umgangen wird, woraus die grundsätzliche Potentialität von sexualisiertem Gewalterleben im Verkauf von Sex als solchem erwächst. Diese Perspektive führt mich jedoch in gleicher Weise zu einer rigorosen Verurteilung des Verhaltens von Freiern aus feministischer Perspektive.

[54] Eine ausführliche Würdigung von vielfältigen Forschungsarbeiten zum Nordischen Modell findet sich auch bei Mau (2022).

Unter anderem setzt sie sich darin mit der in sex-work positiven Kreisen artikulierten Vorstellung auseinander, das Nordische Modell würde dazu führen, dass prostituierten Frauen das Sorgerecht entzogen würde (Mau, 2022: 382). Es existiert im Rahmen der Gesetzgebung in Schweden keine rechtliche Grundlage zum Entzug des Sorgerechts aufgrund von Prostitution. Weiterhin existieren keine Belege dafür, dass es zu solchen Maßnahmen aufgrund der Prostitution gekommen sei. Mau schildert, dass diese unzutreffende Vorstellung in dem Film ‚Wo Sexarbeiterinnen keine Rechte haben‘ prominent gemacht worden sei. In diesem Film wurde die Geschichte einer Frau aus Schweden behandelt. Der Entzug des Sorgerechts sei jedoch tatsächlich auf Kindesmisshandlung und Drogenkonsum zurückgegangen. Der Film wurde im Zuge der Debatte um die Einführung des Sexkaufverbots in Frankreich gedreht.

[55] Siehe auch: https://www.sexindustry-kills.de/doku.php?id=prostitutionmurders:start

[56] So kritisiert etwa der Instagram-Account „der_hase_im_pfeffer“ die von Huschke Mau artikulierte Vorstellung, dass der Verkauf von Sex als solcher als gewaltvoll erlebt werden könnte, mit dem Hinweis, dass dann „Vergewaltigungen“ in der Sex-Arbeit nicht mehr als solche benannt werden könnten – weil dann eine Unterscheidung zwischen dem Erleben im ‚regulärem‘ Sex-Verkauf auf der einen Seite und einer Übertretung explizit gesetzter Grenzen in der Sex-Arbeit auf der anderen Seite nicht mehr möglich wäre. Aus feministischer Perspektive ist es jedoch nicht die Aufgabe Außenstehender (hier: der_hase_im_pfeffer), Personen ihr Erleben im Verkauf von Sex als sexuell missbräuchlich, als gewaltvoll oder gar als einer Vergewaltigung ähnlich abzusprechen. Als Feminist:innen verlassen wir uns darauf, dass alle Personen – ob in oder außerhalb der Prostitution – die für sie passenden Begriffe finden, um sexualisiertes Gewalterleben zu benennen.

[57] Auf zahlreichen Veranstaltungen zu Sex-Work/Prostitution wurden Sandra Norak und Huschke Mau von sex-work positiven Aktivist:innen in ihren Ausführungen unterbrochen, sie wurden angefeindet und teils angeschrien. Huschke Mau berichtet von solchen Vorfällen über ihren facebook-Account: https://www.facebook.com/huschkemau/photos/a.1882583408678081/2916411665295245/. Im Zuge dieser Ausführungen macht sie deutlich, dass sie sich aufgrund des respektlosen Umgangs, den linke Aktivist:innen ihr gegenüber an den Tag gelegt haben, mittlerweile auf Veranstaltungen der CDU wohler fühle als auf linken Veranstaltungen – obwohl sie sich selbst als links versteht. Ich selbst habe eine Veranstaltung besucht, auf der Sandra Norak von sex-work positiven Aktivist:innen verbal angegriffen worden ist – immer wieder ist sie in ihren Ausführungen unterbrochen worden und wurde aggressiv angefeindet.

Auch soziale Medien geben einen Einblick in das feindliche Klima, das teils von sex-work positiven Personen geschürt wird – so etwa der Instagram-Account „der_hase_im_pfeffer“. Dieser hat eine Story geteilt, auf der die Ankündigung einer Talkrunde mit Huschke Mau mit einem Bild versehen wurde, auf dem sich eine Person gegen die Stirn schlägt. „der_hase_im_pfeffer“ ist eine Person, die sex-work positive Positionen einnimmt und – soweit dem Account zu entnehmen ist – nie selbst in der Sex-Arbeit/Prostitution war. Diese Person diffamiert eine prostitutionskritische Aktivistin aus dem gesellschaftlich am stärksten verbreiteten Bereich der Prostitution mit einem Bild, das zum Ausdruck bringen soll, dass von dieser Aktivistin – relativ wohlwollend formuliert – nicht viel Positives zu erwarten sei. Solche Diffamierungen sind aus feministischer Perspektive nicht hinnehmbar.

[58] Vgl. z.B. https://www.spiegel.de/karriere/arbeitsagentur-in-augsburg-wollte-19-jaehrige-an-bordell-vermitteln-a-881825.html; https://www.sol.de/grossregion/arbeitsamt-luxemburg-fordert-taenzerinnen-auf-zu-strippen,323443.html.


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